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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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daraus bilden konnte. »Restaurant« zum Beispiel, das ergab »Rest« und »Stau« und dann »Star« und »Raute« und »Natur« und »Tante« und – Moment – »Trauer«. Wörter gab es auf dem Weg hinaus aus der Stadt mehr als genug, denn sie kamen an Reklametafeln, Großmärkten und Parkplätzen vorbei, sogar an Ballons, die auf den Dächern verankert waren und für Ausverkäufe warben.
     
    Doree hatte Mrs Sands nichts von ihren ersten beiden Versuchen gesagt und würde ihr wahrscheinlich auch von diesem nichts sagen. Mrs Sands, zu der sie immer am Montagnachmittag ging, sprach davon, voranzukommen, obwohl sie immer betonte, dass es Zeit brauche, dass man nichts überstürzen solle. Sie sagte, dass Doree ihre Sache gut mache, dass sie nach und nach ihre eigene Stärke entdecke.
    »Ich weiß, dass diese Worte totgeredet worden sind«, sagte sie. »Aber sie sind trotzdem wahr.«
    Sie wurde rot, als sie sich das Wort »tot« sagen hörte, aber sie machte es nicht durch eine Entschuldigung schlimmer.
    Als Doree sechzehn war – nämlich vor sieben Jahren –, ging sie jeden Tag nach der Schule zu ihrer Mutter ins Krankenhaus. Ihre Mutter lag dort nach einer Rückenoperation, von der es hieß, sie sei ernst, aber nicht lebensgefährlich gewesen. Lloyd war einer der Pfleger. Mit Dorees Mutter verband ihn, dass beide alte Hippies waren, auch wenn Lloyd einige Jahre jünger war, und wann immer er Zeit hatte, kam er und plauderte mit ihr über die Konzerte und die Protestmärsche, an denen sie beide teilgenommen hatten, über unmögliche Leute, die sie gekannt hatten, über Drogentrips, die ihnen das Hirn weggeblasen hatten, und solche Sachen.
    Lloyd war bei den Patienten beliebt, wegen seiner Witze und seiner zupackenden Art. Er war untersetzt, breitschultrig und beeindruckend genug, um manchmal für einen Arzt gehalten zu werden. (Nicht, dass ihm das gefiel – er vertrat die Ansicht, dass vieles in der Medizin Betrug sei und dass viele Ärzte Volltrottel seien.) Er hatte empfindliche rötliche Haut, helle Haare und kühne Augen.
    Er küsste Doree im Fahrstuhl und sagte ihr, sie sei eine Blume in der Wüste. Dann lachte er über sich selbst und sagte: »Ungeheuer originell, was?«
    »Du bist ein Dichter und weißt es nicht«, sagte sie, um freundlich zu sein.
    Eines Nachts starb plötzlich ihre Mutter an einer Embolie. Dorees Mutter hatte viele Freundinnen, die Doree bei sich aufgenommen hätten – und eine Zeitlang blieb sie auch bei einer von ihnen –, aber es war der neue Freund Lloyd, dem sie den Vorzug gab. Als ihr nächster Geburtstag kam, war sie schwanger, dann verheiratet. Lloyd war noch nie verheiratet gewesen, obwohl er mindestens zwei Kinder hatte, deren Aufenthaltsorte er nicht genau kannte. Außerdem waren sie inzwischen sowieso erwachsen. Seine Lebensphilosophie hatte sich mit zunehmendem Alter geändert. Er glaubte jetzt an die Ehe, an Beständigkeit und null Geburtenkontrolle. Und er fand, dass es auf der Sechelt-Halbinsel, wo er mit Doree lebte, mittlerweile zu viele Leute gab – alte Freunde, alte Lebensweisen, alte Geliebte. Bald zog er mit Doree quer durchs Land in eine Stadt, die sie sich auf der Karte wegen ihres Namens ausgesucht hatten: Mildmay. Sie wohnten nicht in der Stadt; sie mieteten etwas in der Umgebung. Lloyd fand Arbeit in einer Eiscremefabrik. Sie legten einen Garten an. Lloyd hatte viel Ahnung davon, ebenso wie vom Tischlern und davon, wie man mit einem Holzofen umging und ein altes Auto in Gang hielt.
    Sasha wurde geboren.
     
    »Vollkommen natürlich«, sagte Mrs Sands.
    »Wirklich?«, fragte Doree.
    Doree setzte sich immer auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, nicht auf das geblümte Sofa mit den Kissen. Mrs Sands rückte dann ihren eigenen Stuhl neben den Schreibtisch, damit sie ohne irgendeine Barriere dazwischen miteinander reden konnten.
    »Irgendwie habe ich erwartet, dass Sie das tun würden«, sagte sie. »Ich meine, ich an Ihrer Stelle hätte das wahrscheinlich getan.«
    Anfangs hätte Mrs Sands so etwas nicht gesagt. Sogar noch vor einem Jahr wäre sie vorsichtiger gewesen, da sie wusste, wie Doree gegen die Vorstellung revoltiert hätte, dass jemand anders, irgendein anderer Mensch, an ihrer Stelle sein könnte. Jetzt wusste sie, dass Doree es einfach als einen Versuch auffassen würde, sogar nur einen bescheidenen, sie zu verstehen.
    Mrs Sands war nicht wie einige von denen. Sie war nicht forsch, nicht dünn, nicht hübsch. Auch nicht zu alt. Sie war
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