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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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etwa so alt, wie Dorees Mutter jetzt wäre, obwohl sie nicht so aussah, als sei sie je ein Hippie gewesen. Ihre ergrauenden Haare waren kurz geschnitten, und auf einem ihrer Backenknochen thronte ein Leberfleck. Sie trug flache Absätze und weite Hosen und geblümte Tops. Sogar wenn diese Tops himbeerrot oder türkisgrün waren, entstand nicht der Eindruck, dass ihr wichtig sei, was sie anzog – eher, als habe ihr jemand gesagt, sie müsse sich aufhübschen, und sie habe sich daraufhin gehorsam etwas gekauft, was das ihrer Meinung nach bewirkte. Ihre große, freundliche, unpersönliche Ernsthaftigkeit entzog diesen Sachen alle aggressive Fröhlichkeit, alle Frechheit.
    »Die ersten beiden Male habe ich ihn gar nicht gesehen«, sagte Doree. »Er wollte nicht herunterkommen.«
    »Aber diesmal doch? Er ist heruntergekommen?«
    »Doch, ja. Aber ich hätte ihn fast nicht erkannt.«
    »Er war gealtert?«
    »Kann schon sein. Kann sein, dass er abgenommen hat. Und diese Sachen. Diese Uniform. In so was hab ich ihn noch nie gesehen.«
    »Er sah für Sie wie jemand anders aus?«
    »Nein.« Doree knabberte an ihrer Oberlippe und versuchte, sich über den Unterschied klarzuwerden. Er war so still gewesen. Sie hatte ihn noch nie so still erlebt. Er schien nicht einmal zu wissen, dass er ihr gegenüber Platz nehmen musste. Ihre ersten Worte zu ihm waren: »Willst du dich nicht hinsetzen?« Und er hatte geantwortet: »Darf ich denn?«
    »Er sah irgendwie so abwesend aus«, sagte sie. »Ich hab mich gefragt, ob sie ihn unter Drogen gesetzt haben.«
    »Vielleicht etwas, damit er im Lot bleibt. Doch ich weiß es nicht. Kamen Sie miteinander ins Gespräch?«
    Doree überlegte, ob man es so nennen konnte. Sie hatte ihm irgendwelche blöden, ganz normalen Fragen gestellt. Wie fühlte er sich? (Geht so.) Bekam er genug zu essen? (Doch, schon.) Gab es einen Ort, wo er spazieren gehen konnte, wenn er wollte? (Unter Aufsicht, ja. Vielleicht konnte man’s einen Ort nennen. Vielleicht konnte man’s spazieren gehen nennen.)
    Sie hatte gesagt: »Du brauchst frische Luft.«
    Er hatte gesagt: »Stimmt.«
    Sie hätte ihn beinahe gefragt, ob er schon Freunde gefunden habe. So, wie man sein Kind über die Schule ausfragt. Wenn man Kinder hätte, die zur Schule gingen.
    »Ja, ja«, sagte Mrs Sands und schob ihr die bereitstehende Kleenex-Schachtel zu. Doree brauchte sie nicht: Ihre Augen waren trocken. Ihr Magen war das Problem. Der Brechreiz.
    Mrs Sands wartete einfach, war klug genug, sich zurückzuhalten.
    Und Lloyd, als habe er gespürt, was sie sagen wollte, erzählte ihr, dass es einen Psychiater gebe, der hin und wieder mit ihm spreche.
    »Ich sag ihm, dass er seine Zeit verschwendet«, sagte Lloyd. »Ich weiß ebenso viel wie er.«
    Das war das einzige Mal, dass er sich für Doree annähernd wie er selbst angehört hatte.
    Während des gesamten Besuchs hämmerte ihr Herz. Sie meinte, gleich in Ohnmacht zu fallen oder zu sterben. So anstrengend war es für sie, ihn anzusehen, ihn zu erkennen in diesem dünnen und grauen, schüchternen, dabei kalten, sich mechanisch bewegenden, dabei unkoordinierten Mann.
    Sie hatte Mrs Sands nichts davon gesagt. Sonst hätte Mrs Sands sie vielleicht – taktvoll – gefragt, vor wem sie Angst habe? Vor sich selbst oder vor ihm? Aber sie hatte keine Angst!
     
    Als Sasha anderthalb war, wurde Barbara Ann geboren, und als Barbara Ann zwei war, bekamen sie Dimitri. Sasha hatten sie zusammen benannt, und dann hatten sie sich geeinigt, dass er den Jungen die Namen geben werde und sie den Mädchen.
    Dimitri war der Erste, der Koliken kriegte. Doree dachte, dass er vielleicht nicht genug Milch bekam oder dass ihre Milch nicht reichhaltig genug war. Oder zu reichhaltig? Jedenfalls nicht das Richtige. Lloyd ließ eine Dame von der La Leche Liga kommen, die mit ihr redete. Was Sie auch tun, sagte die Dame, Sie dürfen ihm keine Zusatzflasche geben. Das sei der Anfang vom Ende, sagte sie, und schon bald werde er die Brust ganz zurückweisen. Sie sprach, als sei das eine schlimme Tragödie.
    Sie hatte keine Ahnung, dass Doree ihm bereits Zusatznahrung gegeben hatte. Und es schien zu stimmen, dass er die vorzog – er sträubte sich mehr und mehr gegen die Brust. Mit drei Monaten nahm er nur noch die Flasche, und dann ließ es sich nicht mehr vor Lloyd verheimlichen. Sie sagte ihm, dass ihre Milch versiegt sei und sie angefangen habe, ihm Zusatznahrung zu geben. Lloyd nahm sich mit finsterer Entschlossenheit erst

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