Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
oder zu missbilligen. Haben Sie sich gut dabei gefühlt, ihn zu sehen? Oder schlecht?«
    »Weiß ich nicht.«
    Doree konnte nicht erklären, dass sie den Eindruck gehabt hatte, gar nicht ihn selbst zu sehen. Sondern eher ein Gespenst. Ganz ausgeblichen. Mit ausgeblichenen, zu weiten Sachen an, mit Schuhen an den Füßen, die kein Geräusch machten – wahrscheinlich Hausschuhe. Seine Haare kamen ihr viel dünner vor. Seine dichten, lockigen, honigfarbenen Haare. Die Schultern – gar nicht mehr so breit, keine Höhlung mehr am Schlüsselbein, an die sie früher den Kopf gelehnt hatte.
    Was er hinterher der Polizei gesagt hatte – es wurde in den Zeitungen abgedruckt –, das war: »Ich habe es getan, um ihnen das Leid zu ersparen.«
    »Welches Leid?«
    »Das Leid, zu wissen, dass ihre Mutter sie verlassen hat«, sagte er.
    Das hatte sich Doree ins Gehirn gebrannt, und als sie beschloss, ihn zu besuchen, geschah es vielleicht aus dem Gedanken heraus, ihn dazu zu bringen, dass er das zurücknahm. Dass er einsah und zugab, wie es wirklich gewesen war.
    »Du hast zu mir gesagt, ich soll aufhören, dir zu widersprechen, oder ich soll das Haus verlassen. Also hab ich das Haus verlassen.«
    »Ich bin nur für eine Nacht zu Maggie gegangen. Ich hatte die feste Absicht zurückzukommen. Ich habe niemanden im Stich gelassen.«
    Sie erinnerte sich genau daran, wie der Streit angefangen hatte. Sie hatte eine Dose Spaghetti gekauft, die ganz leicht eingedellt war. Deswegen war sie billiger, und Doree hatte sich noch über ihre Sparsamkeit gefreut. Sie hatte gemeint, etwas Schlaues zu tun. Aber das sagte sie ihm nicht, als er anfing, sie deswegen auszufragen. Aus irgendeinem Grund hielt sie es für besser, so zu tun, als sei ihr die Delle gar nicht aufgefallen.
    Die wäre jedem aufgefallen, sagte er. Das hätte sie alle vergiften können. Was war denn mit ihr los? Oder hatte sie genau das vorgehabt? Hatte sie geplant, das an den Kindern auszuprobieren oder an ihm?
    Sie hatte erwidert, er sei ja verrückt.
    Er hatte erwidert, nicht er sei verrückt. Wer außer einer verrückten Frau würde für seine Familie Gift kaufen?
    Die Kinder hatten von der Wohnzimmertür aus zugeschaut. Das war das letzte Mal, dass sie die Kinder lebend sah.
    War es das, was sie dachte – dass sie ihn dazu bringen konnte, schließlich einzusehen, wer eigentlich verrückt war?
     
    Als ihr klarwurde, was ihr im Kopf herumging, hätte sie aus dem Bus aussteigen sollen. Sie hätte sogar noch am Tor kehrtmachen können, als sie mit den wenigen anderen Frauen ausstieg, die dann die Auffahrt hinaufstiefelten. Sie hätte über die Straße gehen und auf den Bus zurück in die Stadt warten können. Wahrscheinlich machten einige das auch. Nahmen sich vor, jemanden zu besuchen, und entschieden sich dann dagegen. Wahrscheinlich geschah so etwas andauernd.
    Aber vielleicht war es besser, dass sie ihren Weg fortgesetzt und ihn so fremd und verfallen gesehen hatte. Kein Mensch, dem man alle Schuld geben konnte. Kein richtiger Mensch. Eher wie jemand in einem Traum.
    Sie hatte wieder Träume. In einem war sie aus dem Haus gerannt, nachdem sie die Kinder gefunden hatte, und Lloyd hatte angefangen, auf seine alte, lockere Art zu lachen, dann hatte sie Sasha hinter sich lachen gehört, und dann hatte sie zum Glück erkannt, dass ihr alle nur einen Streich spielten.
     
    »Sie haben mich gefragt, ob ich mich gut oder schlecht dabei gefühlt habe, ihn zu besuchen. Letztes Mal haben Sie mich danach gefragt.«
    »Ja, stimmt«, sagte Mrs Sands.
    »Ich musste darüber nachdenken.«
    »Ja.«
    »Ich finde inzwischen, ich habe mich schlecht dabei gefühlt. Also bin ich nicht wieder hingefahren.«
    Bei Mrs Sands ließ sich das schwer sagen, aber ihr Kopfnicken schien Zustimmung anzudeuten.
    Als Doree dann beschloss, doch wieder hinzufahren, fand sie daher, es sei besser, nichts davon zu erzählen. Und weil es ihr schwerfiel, nicht alles zu erzählen, was sich in ihrem Leben ereignete – da es meistens so wenig war –, rief sie an und sagte ihren Termin ab. Sie sagte, sie fahre in Urlaub. Es war inzwischen Sommer und Urlaub, also ganz normal. Mit einer Freundin, sagte sie.
     
    »Du hast eine andere Jacke an als vorige Woche.«
    »Das war nicht vorige Woche.«
    »Nein?«
    »Das war vor drei Wochen. Jetzt ist es draußen warm. Diese ist dünner, aber eigentlich brauche ich sie nicht. Man braucht überhaupt keine Jacke.«
    Er fragte sie nach der Fahrt, nach den Bussen, die sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher