Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
von Mildmay aus hatte nehmen müssen.
    Sie erzählte ihm, dass sie nicht mehr dort wohne. Sie erzählte ihm, wo sie jetzt wohnte, auch von den drei Bussen.
    »Das ist ja eine ganz schön weite Fahrt für dich. Gefällt es dir, in einem größeren Ort zu wohnen?«
    »Da findet man leichter Arbeit.«
    »Du arbeitest also?«
    Sie hatte ihm schon beim vorigen Besuch erzählt, wo sie wohnte, mit welchen Bussen sie fuhr, wo sie arbeitete.
    »Ich mache die Zimmer in einem Motel sauber«, sagte sie. »Das hab ich dir schon erzählt.«
    »Ach, ja. Hab ich vergessen. Tut mir leid. Denkst du je daran, wieder zur Schule zu gehen? Zur Abendschule?«
    Sie sagte, dass sie daran denke, aber nie ernsthaft genug, um etwas zu unternehmen. Sie sagte, dass diese Arbeit ihr nichts ausmache.
    Dann schien es, als falle beiden nichts mehr ein.
    Er seufzte. Er sagte: »Entschuldigung. Ich bin’s wohl nicht mehr gewohnt, mich mit jemandem zu unterhalten.«
    »Was machst du so die ganze Zeit?«
    »Na ja, ich lese eine Menge. Und meditiere. So formlos.«
    »Ach.«
    »Ich weiß es zu schätzen, dass du herkommst. Das bedeutet mir viel. Aber du sollst nicht denken, dass du damit weitermachen musst. Ich meine, nur, wenn du Lust hast. Komm einfach, wenn du Lust hast. Wenn irgendwas dazwischenkommt, oder wenn dir nicht danach ist … Ich will sagen, allein die Tatsache, dass du überhaupt gekommen bist, dass du auch nur einmal gekommen bist, das ist für mich ein Geschenk. Verstehst du, was ich meine?«
    Sie sagte, ja, sie glaube schon.
    Er sagte, dass er sich nicht in ihr Leben einmischen wolle.
    »Das tust du nicht«, sagte sie.
    »Wolltest du genau das sagen? Ich dachte, du wolltest etwas anderes sagen.«
    Tatsächlich hätte sie beinahe gefragt: »In welches Leben?«
    Nein, sagte sie, eigentlich nicht, nichts anderes.
    »Gut.«
     
    Drei Wochen später erhielt sie einen Anruf. Es war Mrs Sands, sie war selbst am Apparat, nicht eine der Frauen in ihrem Büro.
    »Ach, Doree. Ich dachte, vielleicht sind Sie noch gar nicht zurück. Von Ihrem Urlaub. Sie sind also wieder da?«
    »Ja«, sagte Doree und überlegte, was sie sagen könne, wo sie gewesen sei.
    »Aber Sie sind noch nicht dazu gekommen, einen neuen Termin zu vereinbaren?«
    »Nein. Noch nicht.«
    »Schon gut. Ich wollte nur sichergehen. Geht es Ihnen gut?«
    »Ja.«
    »Schön. Sie wissen ja, wo ich bin, wenn Sie mich je brauchen. Je mal reden wollen.«
    »Ja.«
    »Also passen Sie auf sich auf.«
    Sie hatte Lloyd nicht erwähnt, hatte nicht gefragt, ob die Besuche weitergegangen waren. Sicher, Doree hatte ihr ja gesagt, dass sie nicht weitergehen würden. Aber Mrs Sands konnte meistens ziemlich gut spüren, was wirklich vorging. Und sich auch ziemlich gut zurückhalten, wenn sie merkte, dass eine Frage sie nicht weiterbringen würde. Doree wusste nicht, was sie gesagt hätte, wenn sie gefragt worden wäre – ob sie ihr eine Lüge aufgetischt hätte oder mit der Wahrheit herausgerückt wäre. Tatsächlich war sie gleich am nächsten Sonntag wieder hingefahren, nachdem er ihr mehr oder weniger gesagt hatte, dass es nicht wichtig war, ob sie kam oder nicht.
    Er hatte eine Erkältung. Er wusste nicht, wie er sich die geholt hatte.
    Vielleicht hatte die bei ihrem letzten Besuch schon in ihm gesteckt, sagte er, und deshalb war er neulich so verdrossen.
    »Verdrossen.« Sie hatte inzwischen selten mit jemandem zu tun, der solch ein Wort benutzte, und es klang für sie fremd. Aber er hatte schon immer die Gewohnheit gehabt, solche Wörter zu benutzen, und es hatte eine Zeit gegeben, da waren sie für sie nicht so gewesen wie jetzt.
    »Komme ich dir wie ein anderer Mensch vor?«, fragte er.
    »Na ja, du siehst anders aus«, sagte sie vorsichtig. »Ich nicht auch?«
    »Du siehst schön aus«, sagte er traurig.
    Etwas in ihr wurde weich. Aber sie kämpfte dagegen an.
    »Fühlst du dich anders?«, fragte er. »Fühlst du dich wie ein anderer Mensch?«
    Sie sagte: »Weiß nicht. Und du?«
    Er sagte: »Völlig.«
     
    Ein paar Tage später wurde ihr bei der Arbeit ein großer Umschlag übergeben. Er war an sie adressiert, mit der Anschrift des Motels. Er enthielt mehrere Bögen Briefpapier, die auf beiden Seiten beschrieben waren. Anfangs kam sie gar nicht auf die Idee, dass er von ihm war – irgendwie hatte sie die Vorstellung, dass Leute im Gefängnis keine Briefe schreiben durften. Aber er war natürlich eine andere Sorte Häftling. Er war kein Verbrecher; nur ein gemeingefährlicher
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher