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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Geisteskranker.
    Das Schriftstück trug kein Datum und nicht einmal ein »Liebe Doree«. Es fing einfach an, zu ihr zu sprechen, und zwar derart, dass sie dachte, es müsse sich um eine Art religiöse Einladung handeln:
    Die Menschen suchen überall nach der Lösung. Ihre Gehirne sind wund (vom Suchen). So viele Dinge, die drängeln und ihnen weh tun. Man kann in ihren Gesichtern ihre Prellungen und ihre Schmerzen sehen. Sie sind voller Sorgen. Sie hasten umher. Sie müssen einkaufen gehen und in den Waschsalon und sich die Haare schneiden lassen und ihren Lebensunterhalt verdienen oder sich ihren Sozialhilfescheck abholen. Die Armen müssen das tun, und die Reichen müssen sorgfältig nach den besten Möglichkeiten suchen, ihr Geld auszugeben. Das ist auch Arbeit. Sie müssen die besten Häuser bauen mit goldenen Wasserhähnen für ihr warmes und kaltes Wasser. Und ihre Audis und elektrischen Zahnbürsten und alle möglichen Geräte und dann Alarmanlagen gegen Mord und Totschlag, und ringsum hat niemand, ob reich oder arm, irgend Frieden in der Seele. Ich wollte »Nachbar« statt »niemand« schreiben, warum nur? Ich habe hier keinen Nachbarn. Da, wo ich bin, haben die Menschen wenigstens schon viel Verwirrung hinter sich gelassen. Sie wissen, welches ihre Besitztümer sind und immer sein werden, und sie müssen sich nicht mal ihr eigenes Essen kaufen oder kochen. Oder auswählen. Auswahl gibt es hier nicht.
    Alles, was wir, die wir hier sind, bekommen können, ist das, was wir aus unserem eigenen Geist bekommen können.
    Am Anfang war alles in meinem Kopf Tohuwabohu. Es herrschte unablässig Sturm, und ich schlug immer wieder den Kopf gegen Zement in der Hoffnung, ihn loszuwerden. Meiner Qual und meinem Leben ein Ende zu machen. So wurden Strafen zugemessen. Ich wurde mit kaltem Wasser abgespritzt und gefesselt und bekam Drogen in die Blutbahn. Ich beklage mich auch gar nicht, denn ich musste lernen, dass darin kein Nutzen liegt. Es unterscheidet sich auch gar nicht von der sogenannten wirklichen Welt, in der die Menschen trinken und es treiben und Verbrechen begehen, um ihre Gedanken, die schmerzhaft sind, auszuschalten. Und oft werden sie gefangen und eingekerkert, aber nicht lange genug, damit sie auf der anderen Seite herauskommen. Und die ist? Entweder völliger Wahnsinn oder Frieden.
    Frieden. Ich bin zu Frieden gelangt und immer noch bei Verstand. Ich vermute, wenn Du das jetzt liest, denkst Du, dass ich etwas über Jesus Christus oder auf jeden Fall Buddha sagen werde, als hätte ich mich zu irgendeinem Glauben bekehrt. Nein. Ich schließe nicht die Augen und werde dann von einer bestimmten Höheren Macht emporgetragen. Ich weiß wirklich nicht, was mit all dem gemeint ist. Alles, was ich tue, ist: Erkenne dich selbst. Erkenne dich selbst ist irgendein Gebot von irgendwoher, wahrscheinlich aus der Bibel, also bin ich vielleicht wenigstens darin dem Christentum gefolgt. Auch: Sei dir selber treu – auch das habe ich versucht, falls es in der Bibel steht. Es besagt nicht, welchen Teilen – den bösen oder den guten – man treu bleiben soll, es ist also nicht als Richtschnur für die Moral gemeint. Erkenne dich selbst bezieht sich ebenfalls nicht auf die Moral, wie wir sie im Verhalten kennen. Aber das Verhalten ist eigentlich nicht mein Anliegen, denn ich bin völlig zu Recht als Person verurteilt worden, die nicht richtig beurteilen kann, wie sie sich verhalten muss, und deshalb bin ich hier.
    Zurück zum Erkennen in Erkenne dich selbst. Ich kann völlig ernsthaft behaupten, dass ich mich selbst kenne, und ich kenne sogar das Schlimmste, dessen ich fähig bin, und ich weiß, ich habe es getan. Ich werde von der Welt als Ungeheuer verurteilt, und ich hadere nicht damit, obwohl ich nebenbei sagen könnte, dass Männer, die Bomben abwerfen oder Städte niederbrennen oder Hunderttausende von Menschen aushungern und ermorden, nicht allgemein für Ungeheuer gehalten werden, sondern mit Medaillen und Ehrungen überhäuft werden, nur Taten gegen einige wenige werden für schockierend und böse gehalten. Das soll keine Entschuldigung sein, sondern nur eine Beobachtung.
    Was ich in mir selbst erkenne, ist mein eigenes Böses. Das ist das Geheimnis meiner Ruhe. Ich meine, ich kenne mein Schlimmstes. Es mag schlimmer sein als das Schlimmste anderer Menschen, aber darüber brauche ich mir nicht den Kopf zu zerbrechen. Keine Entschuldigungen. Ich habe Frieden gefunden. Bin ich ein Ungeheuer? Die Welt sagt es, und
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