Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
noch nie erlebt hatte, aber auf die sie gewiss von nun an zählen konnte. Es mochte nicht sehr originell sein, das zu sagen, aber die Stadt war wie eine Stadt in einem Märchen.
Am nächsten Tag blieb sie im Bett und sandte ihrem Kollegen Mittag-Leffler ein paar Zeilen mit der Bitte, ihr seinen Arzt zu schicken, da sie keinen hatte. Er schaute auch selbst nach ihr, und während seines langen Besuchs berichtete sie ihm in großer Erregung von ihren Plänen zu einer neuen mathematischen Arbeit, kühner, wichtiger und schöner als alles, was ihr bis dahin eingefallen war.
Der Arzt meinte, sie habe es mit den Nieren, und ließ ihr eine Medizin da.
»Ich habe vergessen, ihn zu fragen«, sagte Sofia, als er fort war.
»Ihn was zu fragen?«, wollte Mittag-Leffler wissen.
»Herrscht die Pest? In Kopenhagen?«
»Sie träumen«, sagte Mittag-Leffler sanft. »Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Ein blinder Mann«, sagte sie. Dann verbesserte sie sich: »Nein, ich meinte verbindlich. Ein verbindlicher Mann.« Sie wedelte mit den Händen, als versuche sie, eine Form zu bilden, die besser passte als Wörter. »Mein Schwedisch«, sagte sie.
»Warten Sie mit dem Sprechen, bis es Ihnen bessergeht.«
Sie lächelte, dann zog sie ein trauriges Gesicht. Mit Nachdruck sagte sie: »Mein Ehemann.«
»Ihr Verlobter? Denn er ist ja noch nicht Ihr Ehemann. Ich treibe meinen Spott mit Ihnen. Möchten Sie, dass er kommt?«
Aber sie schüttelte den Kopf. Sie sagte: »Nicht der. Bothwell.«
»Nein. Nein. Nein«, sagte sie dann rasch. »Der andere.«
»Sie müssen sich ausruhen.«
Teresa Gulden und ihre Tochter Elsa waren gekommen, auch Ellen Key. Sie wechselten sich bei ihrer Pflege ab. Nachdem Mittag-Leffler gegangen war, schlief sie eine Weile. Als sie erwachte, war sie wieder redselig, sagte aber nichts von einem Ehemann. Sie sprach von ihrem Roman und von dem Buch mit ihren Jugenderinnerungen an Palibino. Sie sagte, sie könne jetzt etwas viel Besseres machen, und fing an, ihre Idee zu einer neuen Geschichte zu beschreiben. Sie kam durcheinander und lachte, weil sie das nicht klarer ausdrücken konnte. Es gebe eine Bewegung vor und zurück, es gebe einen Puls im Leben. Sie habe die Hoffnung, dass sie in diesem Werk entdecken werde, was vorgehe. Etwas Grundlegendes. Erfunden, aber auch nicht.
Was konnte sie damit meinen? Sie lachte.
Sie fließe über vor Ideen, sagte sie, von einer ganz neuen Weite und Bedeutung und doch so natürlich und selbstverständlich, dass sie lachen müsse.
Am Sonntag ging es ihr schlechter. Sie konnte kaum sprechen, bestand aber darauf, Fufu in dem Kostüm zu sehen, das sie auf einem Kinderfest tragen sollte.
Es war ein Zigeunerkostüm, und Fufu tanzte darin, rund um das Bett ihrer Mutter.
Am Montag bat Sofia Teresa Gulden, sich um Fufu zu kümmern.
Gegen Abend fühlte sie sich besser, und eine Krankenschwester kam, damit Teresa und Ellen sich ausruhen konnten.
In den frühen Morgenstunden wachte Sofia auf. Teresa und Ellen wurden aus dem Schlaf geholt, und sie weckten Fufu, damit das Kind seine Mutter noch einmal lebend sehen konnte. Sofia vermochte nur ganz wenig zu sprechen.
Teresa meinte sie sagen zu hören: »Zu viel Glück.«
Sie starb gegen vier Uhr. Die Autopsie sollte ergeben, dass ihre Lunge von einer Entzündung völlig zerstört war und dass ihr Herz krankhafte Veränderungen aufwies, die mehrere Jahre zurückreichten. Ihr Gehirn war, wie alle erwarteten, groß.
Der Arzt von Bornholm las in der Zeitung von ihrem Tod, ohne dass es ihn überraschte. Er hatte gelegentlich Vorahnungen, verstörend für jemanden in seinem Beruf und nicht unbedingt zuverlässig. Er hatte gedacht, Kopenhagen zu meiden könne sie retten. Er fragte sich, ob sie wohl die Droge genommen hatte, die er ihr gegeben hatte, und ob sie ihr den Trost gespendet hatte, wie er ihn im Notfall von ihr empfing.
Sofia Kowalewskaja wurde auf dem Neuen Friedhof, wie er damals hieß, in Stockholm beerdigt, um drei Uhr am Nachmittag eines stillen, kalten Tages, so dass der Atem der Trauergäste und Zuschauer in der frostigen Luft Wolken bildete.
Ein Lorbeerkranz kam von Weierstraß. Er hatte zu seinen Schwestern gesagt, dass er gewusst habe, er werde sie nie wiedersehen.
Er lebte noch sechs Jahre lang.
Maxim kam aus Beaulieu, herbeigerufen von dem Telegramm, das Mittag-Leffler ihm vor ihrem Tod geschickt hatte. Er traf rechtzeitig ein, um auf der Beerdigung eine Trauerrede zu halten, auf
Weitere Kostenlose Bücher