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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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wenn alle das sagen, dann stimme ich zu. Aber dann sage ich, die Welt hat für mich eigentlich keine Bedeutung. Ich bin ich selbst und habe keine Möglichkeit, ein anderes Selbst zu sein. Ich könnte sagen, dass ich damals verrückt war, aber was bedeutet das? Verrückt. Normal. Ich bin ich. Ich konnte mein Ich damals nicht ändern, und ich kann es heute nicht ändern.
    Doree, falls Du bis hierher gelesen hast, es gibt eine besondere Sache, von der ich Dir erzählen möchte, die ich aber nicht niederschreiben kann. Wenn Du je daran denkst, wieder herzukommen, kann ich es Dir sagen. Halte mich nicht für herzlos. Nicht, dass ich die Dinge nicht ändern würde, wenn ich könnte, aber ich kann nicht.
    Ich schicke das an Deinen Arbeitsplatz, denn an den und den Namen der Stadt erinnere ich mich, mein Gehirn funktioniert also in mancher Hinsicht gut.
    Sie dachte, sie würde bei ihrem nächsten Besuch über dieses Schreiben mit ihm reden müssen, und las es sich mehrmals durch, aber ihr fiel nichts dazu ein. Worüber sie eigentlich reden wollte, das war das, was sich angeblich nicht niederschreiben ließ. Doch als sie ihn dann wiedersah, benahm er sich, als hätte er ihr überhaupt nicht geschrieben. Sie suchte nach einem Gesprächsthema und erzählte ihm von dem früher mal berühmten Folk-Sänger, der in dieser Woche im Motel übernachtet hatte. Überraschenderweise wusste er über die Karriere dieses Sängers mehr als sie. Es stellte sich heraus, dass er einen Fernseher hatte oder zumindest Zugang zu einem und sich einige Shows ansah und natürlich regelmäßig die Nachrichten. Das gab ihnen ein bisschen Gesprächsstoff, bis sie nicht mehr anders konnte.
    »Was ist nun die Sache, die du mir nur persönlich sagen kannst?«
    Er sagte, es sei ihm lieber, sie hätte ihn nicht gefragt. Er wisse nicht, ob sie schon so weit seien, darüber zu reden.
    Da bekam sie Angst, es sei etwas, womit sie nicht fertig werden konnte, etwas Unerträgliches, wie dass er sie immer noch liebte. »Liebe« war ein Wort, das sie absolut nicht hören konnte.
    »Gut«, sagte sie. »Vielleicht sind wir ja noch nicht so weit.«
    Dann sagte sie: »Trotzdem, besser, du sagst es mir. Wenn ich heute hier rausgehe und von einem Auto überfahren werde, dann werd ich’s nie erfahren, und du wirst keine Gelegenheit mehr haben, es mir zu sagen.«
    »Stimmt«, sagte er.
    »Also was ist es?«
    »Nächstes Mal. Nächstes Mal. Manchmal kann ich nicht mehr reden. Ich möchte schon, aber mir gehen einfach die Worte aus.«
    Ich habe ständig an Dich gedacht, seitdem Du mich verlassen hast, Doree, und es tut mir leid, dass ich Dich enttäuscht habe. Wenn Du mir gegenübersitzt, überkommen mich mehr Gefühle, als ich vielleicht zeige. Ich habe kein Recht, vor Dir Gefühle zu zeigen, da Du bestimmt mehr Recht darauf hast als ich, und Du bist immer sehr beherrscht. Also werde ich widerrufen, was ich geschrieben habe, denn ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich Dir besser schreiben als mit Dir reden kann.
    Wo fange ich also an?
    Den Himmel gibt es wirklich.
    Das ist eine Möglichkeit, aber nicht richtig, denn ich habe nie an Himmel und Hölle usw. geglaubt. Für mich war das immer ein Haufen dummes Zeug. Also muss es sich ziemlich komisch anhören, wenn ich jetzt davon anfange.
    So werde ich nur sagen: Ich habe die Kinder gesehen.
    Ich habe sie gesehen und mit ihnen gesprochen.
    So. Was denkst Du jetzt? Du denkst, jetzt ist er wirklich übergeschnappt. Oder, es ist ein Traum, und er merkt nicht, dass es ein Traum ist, er erkennt nicht den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Aber ich möchte dir sagen, ich kenne den Unterschied, und was ich weiß, ist, sie existieren. Ich sage, sie existieren, nicht, sie leben, denn leben heißt, in unserer speziellen Dimension, und ich sage nicht, dass sie darin sind. Ich denke sogar, sie sind es nicht. Aber sie existieren wirklich, und es muss so sein, dass es noch eine andere Dimension gibt oder vielleicht unzählige Dimensionen, aber was ich weiß, ist, dass ich zu derjenigen, in der sie sind, Zugang erlangt habe. Vielleicht bin ich dazu gekommen, weil ich so viel allein bin und immer nachdenken muss, mit so viel zum Nachdenken. Es gibt also eine Gnade, die nach so viel Leiden und Einsamkeit einen Weg gefunden hat, mir diese Belohnung zu geben. Ausgerechnet mir, der dies nach Meinung der Welt am wenigsten verdient.
    Wenn Du das bis hierher gelesen und noch nicht zerrissen hast, wirst Du bestimmt etwas wissen wollen.
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