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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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die eine, dann die andere Brust vor, und es gelang ihm, ein paar Tropfen dürftig aussehende Milch herauszuquetschen. Er nannte sie eine Lügnerin. Sie stritten sich. Er sagte, sie sei eine Hure wie ihre Mutter.
    Alle diese Hippies waren Huren, sagte er.
    Bald versöhnten sie sich. Aber jedes Mal, wenn Dimitri quengelig war, wenn er eine Erkältung hatte oder sich vor Sashas zahmem Kaninchen fürchtete oder sich in einem Alter, in dem sein Bruder und seine Schwester schon ohne Stütze gelaufen waren, immer noch an Stühlen festhielt, dann wurde an ihr Versagen erinnert, ihn zu stillen.
     
    Bei Dorees erstem Besuch in Mrs Sands Büro hatte ihr eine der anderen Frauen dort eine Broschüre gegeben. Auf der Vorderseite waren ein goldenes Kreuz und Worte aus goldenen und violetten Buchstaben: »Wenn dein Verlust unerträglich scheint …« Innen drin war ein Bild von Jesus in sanften Farben und kleiner Gedrucktes, das Doree nicht las.
    Auf ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch umklammerte Doree immer noch die Broschüre und fing an zu zittern. Mrs Sands musste sie ihr aus den Händen winden.
    »Hat Ihnen das jemand gegeben?«, fragte Mrs Sands.
    »Die«, sagte Doree und nickte mit dem Kopf zur geschlossenen Tür.
    »Sie wollen das nicht?«
    »Wenn man am Boden ist, dann versuchen die, einen zu kriegen«, sagte Doree und merkte, so etwas hatte ihre Mutter gesagt, als mehrere Damen mit einer ähnlichen Botschaft sie im Krankenhaus aufsuchten. »Die glauben, man braucht nur auf die Knie zu fallen, und alles wird gut.«
    Mrs Sands seufzte.
    »Na ja«, sagte sie, »so einfach ist es bestimmt nicht.«
    »Nicht mal annähernd«, sagte Doree.
    »Vielleicht nicht.«
    Sie sprachen zu jener Zeit nie über Lloyd. Doree dachte nie an ihn, nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, und auch dann nur, als sei er ein schrecklicher Unfall der Natur.
    »Selbst wenn ich an das Zeugs glauben würde«, sagte sie und meinte das, was in der Broschüre stand, »wär’s nur so, dass …« Sie wollte sagen, dass solch ein Glaube bequem wäre, denn dann könnte sie sich vorstellen, dass Lloyd in der Hölle schmorte oder irgend so etwas, aber sie vermochte nicht fortzufahren, weil es einfach zu blöd war, darüber zu reden. Und wegen eines vertrauten Übels, das sie wie ein Hammerschlag in den Bauch traf.
     
    Lloyd war der Meinung, dass die Kinder zu Hause unterrichtet werden sollten. Nicht aus religiösen Gründen – auf dem Kriegspfad gegen Dinosaurier, Höhlenmenschen, Affen und all das –, sondern weil er wollte, dass sie ihren Eltern naheblieben und langsam und behutsam in die Welt eingeführt wurden, statt plötzlich in sie geworfen zu werden. »Zufällig bin ich der Ansicht, dass es meine Kinder sind«, sagte er. »Ich meine, es sind unsere Kinder, nicht die vom Erziehungsministerium.«
    Doree war sich nicht sicher, ob sie damit fertig werden konnte, aber es stellte sich heraus, dass es Richtlinien vom Erziehungsministerium gab und Stundenpläne, die man sich in der Bezirksschule abholen konnte. Sasha war ein aufgeweckter Junge, der sich das Lesen praktisch selber beibrachte, und die anderen beiden waren noch zu klein, um viel zu lernen. Abends und am Wochenende gab Lloyd Sasha Unterricht in Erdkunde, über das Sonnensystem, den Winterschlaf von Tieren oder die Funktionsweise von Autos, ganz danach, welche Fragen aufkamen. Schon bald war Sasha den Schulplänen voraus, aber Doree holte sie trotzdem ab und ließ ihn die Aufgaben zeitgerecht machen, damit dem Gesetz Genüge getan werde.
    Es gab noch eine andere Mutter im Bezirk, die ihre Kinder zu Hause unterrichtete. Sie hieß Maggie und hatte einen Kleinbus. Lloyd brauchte sein Auto, um zur Arbeit zu fahren, und Doree hatte keinen Führerschein, also war sie froh, als Maggie ihr anbot, sie einmal in der Woche zur Schule mitzunehmen, um die erledigten Aufgaben abzugeben und die neuen abzuholen. Natürlich nahmen sie alle Kinder mit. Maggie hatte zwei Jungen. Der ältere hatte so viele Allergien, dass sie genau auf alles aufpassen musste, was er aß – weshalb sie ihn zu Hause unterrichtete. Und dann fand sie, dass sie den jüngeren besser auch dort behielt. Er wollte sowieso bei seinem Bruder bleiben und hatte mit Asthma zu kämpfen.
    Wie dankbar Doree da sein konnte, wenn sie das mit ihren gesunden drei verglich. Lloyd sagte, das sei, weil sie ihre Kinder bekommen hatte, als sie noch jung war, während Maggie gewartet hatte, bis sie kurz vor den Wechseljahren stand. Er übertrieb
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