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Zorngebete

Zorngebete

Titel: Zorngebete
Autoren: Sabine Heymann
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Haufen vor, der aber nicht längs, sondern quer rauskommt. Multiplizieren Sie diesen Schmerz mit unendlich. Und geben Sie Pfeffer dazu. Dann haben Sie, was ich durchmache. Selbst die Hunde lassen mich stillschweigend mein Kind aussetzen. Ich bringe es nicht über mich, »töten« zu sagen. Ich will daran glauben, dass irgendjemand vorbeikommt, wenn ich weg bin. Ich will daran glauben.
    Zumindest haben sie Respekt vor dem Tod, diese Hunde.
    Ich habe an alles gedacht, Schere und Taschentuch. Ich schneide. Er oder sie schreit. Ich wische mich ab. Ich sehe nicht hin. Er oder sie schreit weniger. Ich halte mir die Ohren zu. Ich bleibe nicht stehen, ich gehe weiter. Er oder sie schreit nicht mehr. Ich schreie.
    Die folgenden Tage sind ohne Belang, es ist der Alltag einer Beinahe-Mutter, die ihr Kind ausgesetzt hat und zu vergessen sucht. Sie schafft es nicht, also weint sie.
    Sehr durchwachsen, vorhersehbar bis zum Gehtnichtmehr. Schwamm drüber.
    Tagsüber habe ich eine Menge Freizeit. Manchmal gehe ich zum Kiosk und blättere ein wenig in den Zeitschriften, solange der Händler mich nicht anschnauzt. Weil ich sie natürlich nicht kaufe, die Zeitschriften. Einmal habe ich das Foto von einer Blondine gesehen, auf dem Flughafen einer großen Stadt, und fast wäre ich in Ohnmacht gefallen: Sie hatte denselben Koffer wie ich. Auch sie schwärmte für Dior. In einer anderen Zeitschrift habe ich Fotos von einer Blondine gesehen, bei der oben aus dem Rock der String herausguckte. So ähnlich muss das amerikanische Mädchen ausgesehen haben, das seinen Koffer verloren hat.
    Wenn ich in meinem Zimmer bin, höre ich oft Radio. Ich habe ein Radio. Ich habe Moufhida Ben Abess’ Sendung »Schönheit für einen Dinar« entdeckt, für Frauen, die keine Knete haben, wie ich:
    »Liebe Zuhörerinnen, ich bin Moufhida Ben Abess. Willkommen bei der Sendung ›Schönheit für einen Dinar‹, auf dass die Schönheit nicht das Privileg der betuchten Frauen oder der Hollywood-Stars bleibe. Wir können mit geringen Mitteln schön sein, und die Natur ist unsere beste Verbündete. Heute Abend also werde ich Ihnen das Rezept für kerngesundes, seidenweiches Haar geben, genau wie das von Jennifer Aniston. Kaufen Sie eine Knoblauchzehe, Olivenöl und außerdem eine Joghurtmaske. Und als kleines Extra für eine Haarfarbe à la Eva Longoria mischen Sie ein wenig Wasserstoffperoxid und zwei Beutel Nescafé darunter.«
    Diese Sendung ist wie für mich gemacht. Ich bin zwar arm, betrachte mich aber trotzdem im Spiegel. Ich spüre förmlich, wie mir aus dem Rücken Flügel wachsen, das muss die Luft der Großstadt sein. Ich werde mir die Haare färben. Ganz allein. Ich renne in den Gemischtwarenladen, Nescafé und Wasserstoffperoxid kaufen, da weckt an der Kasse eine Tube Wundercreme meine Neugier. Auf einem Foto sieht man eine Schwarze mit einer schrecklichen Frisur und daneben dieselbe Schwarze, diesmal aber mit glatten, wunderschönen Haaren. Ich kaufe die Creme.
    Ich kann es kaum glauben, dass ich mir jetzt Sachen kaufen kann. Kaufen, verdammt!
    Danke, Allah.
    Ich steige wieder die Treppe hoch und nehme vier Stufen auf einmal. Ich hänge meinen kleinen rostigen Spiegel über das Waschbecken und bestreiche meine Haare mit der Creme von der Schwarzen. Anschließend tue ich meine Mischung aus Wasserstoffperoxid und Nescafé obendrauf.
    Da steht »20 Minuten einwirken lassen«.
    1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20 …
    Das hat alles verbrannt. Ich muss meine Haare ein ganzes Stück abschneiden. Moufhida, du Miststück. Schwarzes Miststück.
    Das Hühnerfett schreckt mich nicht, ich reibe es richtig ab und gebe immer mein Bestes. Es ist schwierig, weil die Lappen fettiger sind als das Essen, aber was willst du machen, das ist mein Job. Eines Morgens ist der Besitzer sehr früh gekommen, um die Kasse vom Vorabend abzuholen. Ich hatte Gloss drauf und die Haare offen, ohne mein Tuch. Er war überrascht und hat »Guten Tag« zu mir gesagt. In die Augen, zum ersten Mal. Monsieur Bouab könnte man als Kugel bezeichnen. Seine Finger sehen aus wie kleine Bratwürste und sein Siegelring wie ein Druckverband. Er hat eine lange Haarsträhne, die er von links nach rechts klappt, um seine Glatze zu kaschieren. Das ist lustig, wenn es einen Windstoß gibt. Monsieur Bouab ist ein reicher Mann. Seine Gürtelschnalle ist aus Gold. Oder jedenfalls vergoldet.
    Sein »Guten Tag« hat mir Halt gegeben. Dafür habe ich mich sehr erkenntlich
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