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Zorngebete

Zorngebete

Titel: Zorngebete
Autoren: Sabine Heymann
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war, jedenfalls einen Sinn, den ich nicht vermutet hätte, als ich in Tafafilt gestorben bin. Du bist mein treuester Verbündeter gewesen während der grauen Jahre.
    Danke, Allah.
    – Khadija! Khadija! Schnell!
    Ich laufe in mein Haus, ich befreie mich von meinem Vorhang und entdecke meinen Mann mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegen. Er hatte eine Herzattacke. Ich werde ein wenig warten müssen mit meinem Antrag. Ich muss mich um ihn kümmern. Ich bin erschüttert.
    Mein Mann muss das Bett hüten, er ist sehr schwach, kann aber noch sprechen. Ich kann nicht glauben, dass er in Gefahr ist, noch vor seiner Mutter zu gehen. Das wäre der Gipfel.
    Er verlangt mehr nach meiner Gegenwart als nach der der beiden anderen. Es ist ihnen egal, so haben sie mehr Zeit zum Sticken.
    Ich füttere und wasche ihn wie ein Baby. Was er sich von mir aber am meisten wünscht, das sind meine Lieder. Nicht unbedingt die Verse des Koran. Nur kleine Melodien, die seine Ohren liebkosen. Seine Ohren, die voller Koranverse und -suren sind,
hadiths
und
sunnas
, verlangt es nun nach Liedern von Liebe und Liebenden, von Lust und Sinnlichkeit, von Küssen und Zärtlichkeiten. Den
haram
- und
hchouma
-Liedern, die ich immer im Radio höre und die mein Leben schöner machen.
    Immerhin ist er mein Mann, ich kann mit ihm machen, was ich will. Und er ist es ja, der darum bittet. Er zwinkert mit den Augen und lächelt, wenn es ein bisschen gewagt wird. Manchmal sage ich ihm auch Suren auf, unterlegt mit meinen eigenen Melodien, ich spreche über Allah in
la la la
und vom Propheten Mohamed in
ré ré ré
. Ich mische das alles, und das beruhigt ihn.
    Eines Abends ist es ihm mit keuchendem Atem gelungen, mir zu sagen:
    – Du wirst ins Paradies kommen, Khadija, denn du hast aus meinem Tod den lebendigsten Moment meines Lebens gemacht.
    Diese letzten Worte von ihm werden ganz bestimmt mein Leben lang in mir nachhallen. Mir ist auch wirklich eine Träne über die Wange gelaufen. Ich habe sie mit der Zunge abgeleckt. Sie war sehr salzig.
    Es gibt solche Momente, Allah, die mir Kraft geben und mich weiter auf Dich hoffen lassen.
    Er hat die Augen geschlossen, ich habe ihm einen Kuss auf den Mund gegeben und dann habe ich das Totengebet gesprochen.
    Amine
.
    Allah, ich werde Dich niemals fragen, warum Du die kleinen Afrikaner sterben lässt! Diese Frage hat keinen Sinn. Wir treffen selbst die falsche Wahl. Deswegen sterben die kleinen Afrikaner. Ich habe eine schlechte Wahl getroffen, und man hat auf mich draufgepinkelt. Aber trotz des Pinkelns habe ich gelernt.
    Ich bin Nutte geworden, weil ich diese Wahl getroffen habe. Ich bereue es nicht. Es sei denn, Du verlangst es von mir, in dem Fall würde ich es tun. Aber kein Mensch auf Erden wird von mir Reue verlangen können. Niemals. Ich habe mir selbst wehgetan. Niemand anderem. Mein Leben ist mein
dschihad
. Ich lerne, wer ich bin. Das ist mein Reichtum. Meine eigene Errungenschaft. Zu lernen, wer man ist, ist der kürzeste Weg zu Dir. Meiner ist kurvenreich gewesen, aber ich sage Dir dank.
    Allah, ich verweigere mich der Vorstellung, dass Du ein Lückenbüßer-Gott bist, die Antwort auf alle meine Fragen und vor allem die Antwort auf meine Unwissenheit. Das würde aus mir nämlich eine Idiotin machen. Und ich bin keine Idiotin. Nur manchmal, das muss ich zugeben …
    An Dich zu glauben, Allah, ist keine Selbstverständlichkeit, eher ein Kampf. Sogar ein schwieriger Kampf, wie der, den die Dienstmädchen gegen den Staub führen. Er ist niemals gewonnen. Und er ist ewig.
    Unaufhörlich dieselben Gebete aufzusagen hat mich Dir nicht unbedingt nähergebracht, Dir zu festgesetzten Stunden Huld zu erweisen ebenso wenig. Was meine Verzweiflung erträglicher gemacht hat, war Deine Gegenwart, als ich am Tiefpunkt angelangt war und sagte: Allah, sag mir, dass es aufwärts geht mit mir, lass einen Stern blinzeln, um mir das zu bestätigen, bitte. Und Du hast einen Stern blinzeln lassen …
    Ich untersage jedem die Behauptung, dass es meine Augen waren, die geblinzelt haben, denn ich habe diese Sterne sehr gut sehen können im Gefängnis, und sie blinzelten! Was meinen Glauben mit Leben erfüllt, ist die Liebe zu Dir. Dich zu lieben hat es mir erlaubt, mich zu lieben, und mich zu lieben hat es mir erlaubt zu lieben.
    Gut und Böse gibt es nicht. Dafür bist Du viel zu scharfsinnig.
    Allah, Du bestehst nur aus Zwischentönen und darum liebe ich Dich.
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Glossar
    Meinem Vater, dem
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