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Zorngebete

Zorngebete

Titel: Zorngebete
Autoren: Sabine Heymann
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diese Idioten, dass auch ihre Mütter Frauen waren, bevor sie Mütter wurden. Also Nutten, ihrer eigenen Logik zufolge … Auf jeden Fall ist meine Schwiegermutter in ihrer Jugend eine Schlampe gewesen, ganz bestimmt, sie weiß zu genau, wie ich funktioniere.
    Zu allem Überfluss verhindert sie, dass ich zu meinen Schreib- und Lesekursen gehen kann. Sie hat erfahren, dass in dem Saal neben meinem ein Mann die Kurse gibt. Also hat sie vor ihrem Sohn eine Szene gemacht. Dabei ist es ein sehr guter Verein, und außerdem war mein Mann einverstanden. Diese Schnepfe erzählt aber überall herum, dass ich mit Unbekannten spreche und insbesondere mit diesem Lehrer. So ein Quatsch. Es kommt tatsächlich vor, dass ich mit ihm spreche, aber doch nur, um Fragen zu stellen. Um zu wissen, ob das A und das C wie ak oder as ausgesprochen werden. Solche Sachen. Sagt man »Selwa ist zu dem Friseur gegangen« oder »zum Friseur«?
    Er ist ein netter Herr. Er heißt Boualem, und er gibt sich große Mühe, damit sein Verein größer wird. Er hat eine unendliche Geduld. Vor ihm schämt man sich nicht, nichts zu wissen. Okay, es stimmt, ich habe meinem Mann nicht gesagt, dass die Lehrerin ein Lehrer ist, das hätte sofort ein »Nein« bedeutet. Aber warum, zum Teufel? Ich habe nichts Böses getan! Trotzdem musste ich mit dem Kurs aufhören. Mein Mann hat mich gebeten, seine arme Mutter zu schonen. Er hat mir aber versprochen, dass ich bald damit weitermachen kann.
    In der Zwischenzeit gibt mir Boualem heimlich dreimal die Woche eine Viertelstunde Lese- und Schreibunterricht, mit ein paar Hausaufgaben. Wir setzen uns hinter eine kleine Zementmauer an der Ecke der Rue d’Inezguane, und ich behalte meinen Schleier auf für den Fall, dass ich plötzlich die Flucht ergreifen muss … Er beglückwünscht mich zu meiner Standhaftigkeit und beruhigt mich jedes Mal, indem er wiederholt, dass ich nichts Böses tue. Er erfindet sogar intelligente Entschuldigungen für mich, mit denen ich bei meiner Schwiegermutter die Verspätungen rechtfertigen kann. Das geht schon seit Monaten so, Monate, in denen ich immer wieder das Alphabet lese und Buchstaben zusammensetze. Manchmal funktioniert es, und es kommen Wörter dabei heraus.
    Einmal hat er mir gesagt, dass in einem
hadith
des Propheten, Friede seiner Seele, geschrieben steht: »Eine Sammlung Wissen ist genauso viel wert wie ein ganzes Leben Gebete.« Das erwärmt mir das Herz. Und es hat mich in der Meinung bestärkt, dass meine Schwiegermutter eine wirklich kleingeistige Person ist, die versucht, Scheiße zu finden, wo nichts ist als eine unbändige Lust auf das Lernen. Da sie aber ziemlich schlau ist, behalte ich bei ihr meine ungehobelte Redeweise bei, damit sie keinen Verdacht schöpft, aber ich merke deutlich, dass ich mich weiterentwickle und mein Horizont sich erweitert. Manchmal stimmt mich das versöhnlich, manchmal dagegen bin ich zorniger denn je. Mit den Worten kommt der Durchblick.
    Ich muss aber sagen, dass mich Boualem ein wenig mit den Männern versöhnt. Er erinnert mich an Abdelatif und an gewisse Seiten meines Mannes. Nur gewisse. Er hat eine reizende Frau, sie heißt Faïza, und sie kümmert sich um die ledigen Mütter im Verein. Sie bringt ihnen Lesen, Schreiben, Nähen, Sticken, Kochen bei. Und sich um ihre Babys zu kümmern. Wenn ich gewusst hätte, dass es solche Vereine gibt, ich schwör’s, hätte ich diese Sache damals nie gemacht. Das weißt Du genau, Allah. Ich wäre eine ledige Mutter in einem Land gewesen, in dem man entweder das eine oder das andere ist, aber niemals beides zusammen. Andernfalls ist es
haram
. Todsünde.

Ein Jahr ist vergangen. Sie ist immer noch nicht tot. Dabei ist sie alt, frisst für vier und pinkelt manchmal Blut. Pfefferminztee, gezuckerte Kuchen, Datteln, könnte sie nicht Diabetes kriegen oder so etwas? Die Treppe herunterfallen und sich die Knochen brechen? Einen Schlaganfall bekommen? Nur so ein paar Ideen für Dich … Sie ruiniert mein Leben, Allah. Wie reagiert man auf solche Hindernisse? Warum ist es so schlimm, jemandem den Tod zu wünschen, der einen am Leben hindert?
    Sie schlägt mich jetzt und beleidigt mich zu oft, sie schafft mir Probleme mit allen Leuten. Jeden Tag weine ich. Sie muss aus meinem Leben verschwinden, und außer Dir gibt es niemanden, der dafür sorgen kann, dass sie stirbt. Warum lässt Du ihre Stunde nicht ein wenig eher schlagen? Ist es
haram
, das zu sagen? Oder ist es
hchouma
? Ich weiß nicht mehr,
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