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Zorn und Zärtlichkeit

Zorn und Zärtlichkeit

Titel: Zorn und Zärtlichkeit
Autoren: Johanna Lindsey
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unzivilisierter Rohling war. Er hatte die Geschichten gehört, die man sich über James MacKinnion erzählte - gräßliche Geschichten. Der Mann hatte von Kindesbeinen an getötet und Höfe geplündert. Und seine Frau war lieber gestorben, als seine Berührung zu dulden. Dugald wäre unfähig, sie solchen Qualen auszusetzen. Dazu könnte ihn William niemals überreden.
    Sheena verließ die Zinnen und machte sich auf die Suche nach Niall. Er würde sie trösten - aber auch er konnte ihr Problem nicht lösen. Sie musste irgend jemanden heiraten, so bald wie möglich.

4.

     
    AUGUST 1541,
    ANGUSSHIRE, SCHOTTLAND
    Sheena erwachte in der stillen Stunde kurz vor Tagesanbruch. In wenigen Minuten hatte sie ihr dichtes langes Haar geflochten und sich mit kurzer Jacke, Kilt und Tartan als junger Bursche verkleidet. Eine Kerze in der einen Hand und ein kleines Bündel in der anderen, schlüpfte sie aus der winzigen Kammer, die sie bewohnte, seit ihr die Schwestern fremd geworden waren. Jetzt ertrug sie es nicht mehr, das größere, viel behaglichere Schlafzimmer mit den drei Mädchen zu teilen.
    Am Ende eines schmalen Korridors führten fünf Stufen zu Nialls Kammer hinauf. Im Tower Esk gab es mehrere Stockwerke, viele kleine Zimmer und gemütliche Stübchen. Außer der Halle im Erdgeschoß sowie den darunterliegenden Vorratskammern und Verliesen waren nur wenige größere Räume im Turm zu finden.
    Sheenas Heim zählte zu den neueren Turmhäusern, die in zunehmendem Maße die großen Schlösser des Tieflands ersetzten . Tower Esk, nur ein J ahrhundert alt, war eher eine Familienburg als eine feudale Festung - ein schlichter Bau mit Schießscharten an der Brustwehr und Balustraden an den Galerien. Fünf Stockwerke hoch und höher als breit, war das Turmhaus nicht so uneinnehmbar wie ein Schloss . Trotzdem bot es seinen Bewohnern genügend Möglichkeiten, sich zu verteidigen.
    Sheena war an der stets umstrittenen Grenze zwischen den Tief-und Hochlanden aufgewachsen. Zwischen beiden Bereichen bestanden deutliche Unterschiede in Sprache und Kultur, und die Fergussons verkörperten eine Mischung aus beiden Volksstämmen. Die Bergschotten waren unzivilisierte Leute, die Gälisch sprachen und vielleicht eine Kirche pro Gemeinde hatten, manchmal nicht einmal das. Sie kannten keine Gottesfurcht und liebten den Krieg wie kein anderes Volk.
    Die Tiefländer waren zivilisierter, weil sie den Engländern näherstanden. In ihrem Gebiet gab es zahlreiche königliche Schlösser und Abteien. Und da sie viel gläubiger waren als die Hochländer, besaßen sie Kirchen im Über Fluss . Allerdings ließ die Frömmigkeit mehrerer katholischer Priester und Mönche zu wünschen übrig, da sie ihre Ämter zumeist geerbt hatten.
    Die Fergussons versuchten ein Gleichgewicht zwischen beiden Kulturkreisen zu halten. Sie sprachen Englisch, weil sie als Tiefländer galten. Doch sie beherrschten auch Gälisch, da sie vor Jahrhunderten aus dem Hochland gekommen waren. Sie hatten weniger mit den Engländern und deren Königtum zu schaffen als die echten Tiefländer, und es war unwahrscheinlich, dass sie die alte Sprache ebenso leicht vergessen würden wie letztere. Sicher, sie kleideten sich nach der englischen Mode, und Sheena hatte sogar eine Tante, die als Nonne in Aberdeen lebte, aber sie waren nicht besonders religiös und gingen höchstens einmal im Monat zur Kirche.
    Es war nicht angenehm, in der Mitte zwischen zwei EinFluss bereichen zu stehen - ein kleiner Clan, der stets von größeren behelligt wurde und zur Zeit mit einem mächtigen Hochländer kämpfen musste . Die Tiefländer in südlicheren Gefilden führten ein vergleichsweise friedliches Leben. Nicht so die Fergussons. Sheena verstand nur zu gut, dass ihr Vater seine Hoffnung auf Bündnisse setzte und seine Töchter zu solchen Zwecken heranziehen wollte.
    Sie öffnete die Tür zum Zimmer ihres Bruders und sah, dass er immer noch im tiefen Schlaf lag. Diesen Zustand beendete sie, indem sie ihn heftig an der Schulter rüttelte. Als Niall die Augen öffnete und Sheena in ihrer Verkleidung erblickte, vergrub er stöhnend den Kopf unter der Decke. So hätte sie sich niemals angezogen, würde sie nicht beabsichtigen, den Turm zu verlassen.
    »Komm schon, Niall!« Sie schüttelte ihn noch einmal.
    »Nein!«
    »Vor Sonnenaufgang sind wir wieder zu Hause.« Erbarmungslos riß sie ihm die Decke weg. »Oder willst du, dass ich allein gehe?»
    Diesen entschlossenen Tonfall kannte Niall zur Genüge.
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