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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin
Autoren: Bruce Sterling
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meiner Pein.«
    »Ein abwegiger Gedanke«, meinte Bagayoko kopfschüttelnd. »Weshalb sollte der Fürst mich dafür bemühen? Jeder seiner Speerkämpfer könnte dich wie einen Wasserschlauch durchlöchern.«
    »Zu dieser Zeit«, meinte der Prophet, »werden meine Sehertalente bereits für soviel Unruhe sorgen, daß er sich gezwungen sieht, radikale Mittel anzuwenden.«
    »Nun«, meinte Bagayoko, »das klingt logisch, wenngleich über alle Maßen grotesk.«
    »Im Gegensatz zu anderen Propheten«, erklärte der Dulder, »sehe ich die Zukunft nicht so, wie ihr sie euch gern vorstellt, sondern in ihrer ganzen katastrophalen, blinden Sinnlosigkeit. Deshalb kam ich hierher, in euer liebliches Audoghast. Meine zahlreichen, ganz und gar zutreffenden Weissagungen werden ausgelöscht sein, wenn diese Stadt verschwindet. Das kann der Welt unangenehme Konflikte zwischen Verfechtern der Vorherbestimmung und Anhängern des freien Willens ersparen.«
    »Ein Theologe!« rief der Dichter. »Ein aussätziger Theologe! Zu schade, daß meine Lehrer aus Timbuktu nicht hier sind, um mit ihm zu diskutieren!«
    »Du sagst also den Untergang unserer Stadt vorher?« fragte Manimenesch.
    »Ja. Ich will mich genauer ausdrücken: Wir leben jetzt im Jahre 406 nach der Hedschra des Propheten oder im Jahre 1014 der christlichen Zeitrechnung. In vierzig Jahren wird eine Gruppe strenggläubiger Moslem-Fanatiker den sogenannten Almoraviden-Kult gründen. Audoghast wird zu jener Zeit mit dem Reiche Ghana verbündet sein, dessen Bewohner Götzen anbeten. Aus diesem Grunde wird Ibn Yasin, der kriegerische Glaubenseiferer der Almoraviden, Audoghast als Brutstätte des Heidentums verdammen und, angestachelt von Selbstgerechtigkeit und Habgier, seine Horde von Wüsten-Marodeuren gegen die Stadt führen. Sie werden die Männer niedermetzeln und die Weiber schänden und versklaven. Sie werden Audoghast plündern, die Brunnen vergiften und die Ernten auf den Feldern verdorren lassen, bis der Wind sie davonbläst. Hundert Jahre später werden Sanddünen die Ruinen unter sich begraben. Und in fünfhundert Jahren wird Audoghast nur noch in einigen Dutzend Zeilen fortleben, die in den Reisebüchern arabischer Gelehrter stehen.«
    Khayali nahm seine Gitarre in die andere Hand. »Aber die Bibliotheken von Timbuktu sind voll von Büchern über Audoghast und unsere, wenn ich das sagen darf, unsterbliche Dichtkunst!«
    »Ich sprach bis jetzt nicht von Timbuktu«, meinte der Prophet. »Maurische Eindringlinge unter der Führung eines blonden spanischen Eunuchen werden die Stadt plündern und die Bücher ihren Ziegen zum Fraß vorwerfen.«
    Die Gesellschaft brach in ungläubiges Gelächter aus. Ungerührt fuhr der Wahrsager fort: »Die Zerstörung wird so weitreichend sein, so gründlich und so umfassend, daß man in künftigen Jahrhunderten glauben wird, Westafrika sei immer nur ein Land der Wilden gewesen.«
    »Wer in aller Welt könnte einem solchen Irrtum erliegen?« fragte der Poet.
    »Die Europäer, die ihren gegenwärtigen elenden Verfall überwinden, neu erstarken und sich mit mächtigen Wissenschaften wappnen werden.«
    »Was geschieht dann?« fragte Bagayoko lächelnd.
    »Ich kann zwar in jene künftigen Zeitalter sehen«, antwortete der Prophet, »aber ich tue es nicht gern, da mir davon der Kopf schmerzt.«
    »Du weissagst also«, sprach Manimenesch, »daß unsere vielgerühmte Metropole mit ihren hochaufragenden Moscheen und ihrer gut bewaffneten Bürgerwehr veröden und in Vergessenheit geraten wird?«
    »Genau das ist die beklagenswerte Wahrheit. Ihr und alles, was ihr liebt, werden spurlos aus dieser Welt verschwinden – bis auf ein paar Zeilen in den Schriften von Fremden.«
    »Und unsere Stadt soll Barbarenstämmen zum Opfer fallen?«
    »Keiner von euch hier wird die Katastrophe erleben«, erwiderte der Dulder. »Ihr werdet so weiterleben wie bisher, sorglos und in Luxus, nicht weil ihr es verdient, sondern weil das Schicksal blind ist. Mit der Zeit werdet ihr den heutigen Abend vergessen. Ihr werdet jedes meiner Worte vergessen, so wie die Welt euch und eure Stadt vergessen wird. Wenn Audoghast fällt, wird Sidi, der Sohn einer Sklavin, der einzige Überlebende der hier Versammelten sein. Aber zu jenem Zeitpunkt wird auch er Audoghast vergessen haben, denn er hat keinen Grund, die Stadt zu lieben. Er wird als wohlhabender alter Kaufmann in Ch'angan leben, einer Stadt in China von so unerhörtem Reichtum, daß sie zehn Städte wie Audoghast kaufen
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