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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin
Autoren: Bruce Sterling
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Wirklichkeit aber sieht meistens ganz anders aus. Wahrscheinlich hat irgend jemand zuviel Sake getrunken und anschließend behauptet, etwas gesehen zu haben. Aber was soll's: Deshalb kann man niemandem Vorwürfe machen.«
    Onogawa nickte nachdenklich.
    Inzwischen hatten die anderen Feuerwehrleute gründliche Arbeit geleistet. Nur noch wenige Flammen loderten, und die Zuschauer beobachteten das Chaos aus Asche und verkohltem Holz. »Sieht gar nicht übel aus, was?« meinte der Mann im langen Mantel. »Seht nur, wie der Rauch das Licht des Herbstmondes verdunkelt!« Er seufzte zufrieden. »So ein Feuer bringt das Geschäft wieder richtig in Schwung. Ich meine natürlich das Geschäft der Tischler.« Er deutete auf die letzte Glut. »Wir schaffen hier wieder Ordnung, und im Anschluß daran machen wir uns an den Wiederaufbau. Ja, wir sichern uns einige langfristige und lukrative Verträge und schaffen eine neue und moderne Stadt.«
    »Trägst du deshalb einen Mantel mit Ziegelsteinmuster?« fragte Onogawa.
    Der Feuerwehrmann senkte den Kopf und starrte auf seinen tropfnassen Mantel. »Ja, sie sehen wirklich wie Ziegelsteine aus, nicht wahr?« Er lachte. »Kein übler Witz. Wart nur, bis ich ihn meinen Kollegen erzählt habe!«

 



Der Morgen dämmerte über dem alten Edo. Der Druckkünstler Yoshitoshi rieb sich die geröteten Augen, seufzte und blickte aus dem offenen Fenster. Jenseits der Telegrafendrähte, hinter den Dächern der Ziegelstadt, kräuselte grauschwarzer Rauch gen Himmel. Eine weitere Blume von Edo hatte das Ende ihres kurzen Lebens erreicht.
    Die Kabel summten: Der Dämon war in seinen Drahtbau dicht vor dem Fenster zurückgekehrt. »Sag niemandem etwas, Yoshitoshi«, surrte die elektrische Stimme der Wesenheit.
    »Ich werde mich hüten«, erwiderte der Künstler. »Schließlich möchte ich vermeiden, daß man mich erneut einsperrt.«
    »Ich sorge dafür, daß es dir besser geht als jemals zuvor«, versprach der Dämon. »Verlaß dich auf mich. Ich mache dich reich und berühmt. In Zukunft wird es keine Schatten und Schemen mehr geben, vor denen sich die Bewohner der Stadt fürchten. Ich schaffe Licht und strahlenden Glanz, Yoshitoshi. Ich kann alles verändern.«
    »Alles niederbrennen, meinst du wohl«, erwiderte der Künstler.
    »Feuer ist Macht«, summte der Dämon. »Flammen bringen Schönheit. Und wenn du aufhörst zu versuchen, das Alte zu bewahren, wirst du jene Pracht erkennen. Ich möchte, daß ihr mir dient, ihr Japaner. Sobald ihr mich als einen Teil eures Wesens akzeptiert, werdet ihr mir weitaus bessere Dienste erweisen als die dummen Ausländer. Ich mache euch alle reich. Edo wird die größte und erhabenste Stadt der ganzen Welt sein. Stell dir nur vor: Licht und Musik, auf einen einfachen Knopfdruck hin. Bald könnt ihr die Meere überqueren, und dann seid ihr wie Götter.«
    »Und wenn wir dich ablehnen?«
    »Unmöglich! Ihr dürft mich nicht zurückweisen! Ich verbrenne euch, bis ihr mit mir einverstanden seid. Das habe ich dir doch schon gesagt, Yoshitoshi. Wenn ich stärker bin, brauch ich mich nicht mehr nur auf die kleinen Blumen von Edo zu beschränken. Dann lasse ich die Knospen der Hölle über euren Städten aufblühen – Blumen des Infernos, größer als die höchsten Berge! Rote Blumen, die eine ganze Stadt innerhalb weniger Sekunden in Asche verwandeln.«
    Yoshitoshi griff nach seinem neuesten Bild und entrollte es vor dem Fenster. Die ganze Nacht über hatte er daran gearbeitet, und jetzt war es endlich fertig. Es zeigte eine Landschaft des Wahnsinns: Balken aus grellem Licht ragten zu glühenden und brennenden Wolken empor. Geflügelte Lokomotiven flogen wie stählerne Schmeißfliegen über eine leichenweiße Stadt, und an ihren metallenen Leibern klebten dicke Eier, die heißen Tod in sich bargen. »So etwas, zum Beispiel«, sagte er.
    Der Dämon gab ein hämisches Surren von sich. »Ja, genau! Wie ich es dir beschrieb. Zeig das Bild den anderen Menschen. Mach ihnen klar, daß sie sich mir nicht widersetzen können. Zeig es ihnen allen!«
    »Ich denke drüber nach«, entgegnete Yoshitoshi. »Und jetzt laß mich in Ruhe.« Er klappte die dicken Fensterläden zu.
    Dann rollte er das Bild wieder zusammen, so daß es eine kleine Röhre bildete, nahm an seinem Arbeitstisch Platz und zog eine Öllampe heran. Am östlichen Horizont kündigte sich bereits das erste Licht des neuen Tages an. Es wurde Zeit, ein wenig zu schlafen.
    Yoshitoshi hielt das Ende der Röhre über die
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