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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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brenne doch, sei konsequent«, dachte Mimi. Aber sie schämte sich für den flüchtigen Gedanken, wie damals vor Jahren, als sie Arianna eine Ohrfeige geben wollte und es nicht konnte. Die Verwirrung trübte den Blick, lähmte die Zunge, kein Wort konnte ausgesprochen werden, der Wind hatte sich gelegt, und die Krähen auf den Stangen der Antennen hatten sich wieder in die Luft erhoben.
    »Meine Liebste, du wirst mich brennen sehen.« Noch nie war es so schön, Meineliebste genannt zu werden, Meineliebste in einem einzigen Wort, das nach Salz, nach Zucker, Zedratzitronen und Milch, nach allen Aromen schmeckte, die in den Gaumen aufsteigen, unter die Zunge, zwischen die Zähne.
    Pati zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Er schüttelte sie, damit man hörte, dass sie voll war.
    Das Entsetzen hatte ihre Gesichtsmuskeln gelähmt, im Mund spürte sie den Geschmack nach Blut von einem Schnitt in der Zunge.
    »Ich habe nichts zu verlieren, der Asbest hat auch mich erwischt, aber ich werde als Mann sterben, ich sterbe ehrenvoll, ich werde meiner Frau Ehre machen.« Ippazio zog das erste Streichholz heraus und rieb es am Schleifpapier der Schachtel. Doch sein Eifer ließ den Schwefelkopf abbrechen. Er zog ein weiteres hervor, es schien feucht geworden zu sein, er warf es weg. Ein drittes, er blies es trocken. Er war bereit, es anzuzünden.
    Arianna und Biagio waren gerade in dem Moment angekommen, als die beiden Frauen in großer Hast vom Dach gestiegen waren. Die Frauen schlugen Alarm, auf dem Dach sei ein mit Benzin übergossener Mann, der sich anzünden wolle. Frassino gebot Ruhe, niemand dürfe nach oben, bevor er nicht mit einer Amtsperson hinaufgegangen sei. Ein junger Streifenpolizist mit Schokoladenaugen und Augenhöhlen, die ein Meister der Radierung gezeichnet hatte, bot sich an: »Den Pati kenn ich, er hat mit meinem Vater in der Ternitti gearbeitet.« Arianna mischte sich ein, packte den Polizisten am Arm: »Ich kenne Pati nicht, aber er ist
sirma
, mein Vater.« Wenige Augenblicke später waren sie auf den Metallsprossen der Leiter und kletterten rasch aufs Dach, stechenden Benzingeruch in der Nase.
    Pati strich jetzt das dritte Streichholz an.
    Mimi hob den Kopf zum Himmel, als wollte sie ihre toten Seelen, ihre Vorfahren anrufen; sie hatte keine Zeit zu beten, sonst hätte sie es getan. Wie oft hatte man ihr gesagt, sie sei eine
macara
, eine Hexe, die verzaubern konnte. Eine Beleidigung, aber auch eine schmeichelhafte Bezeichnung. Nie zuvor hatte sie sich so sehr gewünscht, wirklich eine Hexe zu sein. Dem Dorfklatsch glauben zu können.
    Wer die Szene von unten beobachtete, konnte das Drama nicht wahrnehmen, die Erregung nicht erkennen, aber auch nicht das sehr alte Band, das die Absichten der beiden Hauptfiguren miteinander verknüpfte. Sie bewegten sich wie zwei Marionetten, deren unsichtbare Fäden jeweils vom anderen gehalten und gezogen wurden, Mimi wartete auf einen Wink, und Pati wiederum wartete auf einen Satz, ein Lob oder die Vergebung.
    »Wirf die Schachtel weg, Pati.«
    »Nein, Mimi, verbrannt bin ich dir nützlicher.«
    »Das ist zu leicht.«
    »Es gibt keinen anderen Weg für mich.«
    »Um was zu erreichen?«
    »Um Frieden zu haben.«
    »Deinen Frieden? Wie ist es bloß möglich, dass du immer und ausschließlich an dich denkst, Pati? Was ist passiert? Sagst du mir endlich ein für alle Mal, was dir Angst macht? Du bist hierher zurückgekommen. Welchen Frieden suchst du?«
    »Vielleicht versuche ich, keine Angst vor dir zu haben.«
    »Hab keine.«
    »Eines weiß ich jetzt sicher. Ich habe keine Angst zu sterben, und wenn es jetzt passieren würde, wäre ich glücklich.«
    Die Anspannung in Patis Nerven löste sich, der Satz kam heraus wie ein Geständnis, der Ausbruch eines Verzweifelten.
    Und während er sprach, sah Mimi den akrobatischen Prinzen wieder vor sich, sie sah ihn in der Nacht ihrer ersten Begegnung in den Waschräumen einer ehemaligen Fabrik, umgeben von den zitternden Flämmchen der Streichhölzer. Sie konnte nicht zulassen, dass dieselben Flämmchen sich ihr größtes Glück wieder zurückholten. Da zerplatzte, genau in dem Moment, in dem der Zugang des Gedächtnisses zu sehr weit entfernten, wunderbaren Gegenden sich unvermutet wieder auftat, der erste Tropfen auf dem Boden, kraftvoll, dem Strömen eines Gebirgsbachs vergleichbar, dann zwei, dann drei, schließlich wurde der schwarze Himmel weiß, das Sprichwort sagt »Cielu ca lusci acqua annusci«, Himmel, der
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