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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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dieser unbezähmbaren Frau allesamt erfahren hatten. Die Beziehung zu Mimi funktionierte wie die chinesische Wasserfolter: Anfangs tat es nicht weh, war erfrischend wie Tau, aber dann wurden die Tropfen zu Blei.
    Pati hatte sich nie gegen die Leute gewehrt, die Mimis Namen mit einem Satz, einer Anekdote oder einem Gesichtsausdruck ankratzten, er hatte sich einmal mehr hinter seinem Schweigen verschanzt, doch das war nichts anderes als ein verzweifelter Selbstschutz. Viele Male hatte er sein Schweigen bereut. Und er hatte es bereut, dass er seine Frauen ihrem Schicksal überlassen hatte. Mimi, Arianna, aber auch Franca, die er vor ein paar Monaten eines Morgens mit einem schlichten Zettel verlassen hatte, auf dem geschrieben stand: »Such nicht mehr nach mir.«
    Einen Satz zu schreiben, der mit wenigen Silben ein jahrelanges Zusammenleben auslöscht, das muss reiflich überlegt sein. Nein, das stimmt nicht. Es war ein unbedeutender Vorfall, der Pati dazu bewog, eines Morgens stand er mit Franca auf der Rolltreppe in einem Einkaufszentrum in Zürich. Dieses Zentrum war ein futuristischer Bau mit meterhohen Zwischengeschossen, eine ungeheure Kuppel aus Glas überragte das Atrium, in das die Gummischlange der Rolltreppe mündete. Das Förderband war lang und steil, und kaum stand Pati darauf, packte ihn eine unbezwingliche Lust, mit Riesenschritten über das Band zu laufen. Ein infantiler Impuls, der die Kindereien aus der Zeit der Ternitti wachrief, als Pati Figuren in den weichen Zement zeichnete. Doch während er über die Treppe rannte, hinter sich Franca, die viel langsamer vorankam, spürte er eine Enge in der Brust, sein Atem stockte, die riesige Glaskuppel schien auf ihn zuzukommen, und ein Schwindelanfall packte ihn, gefolgt von einem ungewohnten Schweißausbruch, der seine Haut benetzte.
    Es war der erste Auftritt der Krankheit, der Husten sollte in den nächsten Tagen folgen, doch Pati hatte bereits die klare Empfindung der Krankheit und des Todes. Das Unwohlsein trübte seinen Verstand, es warf ihn zu Boden, die Stimmen, die ihn umgaben, wurden feindlich, und obwohl er inzwischen gut Deutsch sprach, konnte er nicht verstehen, was Franca zu ihm sagte, auch all die anderen Worte nicht, die die Leute ringsum sprachen, während sie versuchten, ihm zu helfen, denn am Ende der Rolltreppe war er gestürzt.
    Pati hatte oft an diesen Anfall zurückgedacht, an den Nebel aus Gesichtern und unverständlichen Worten, an Francas Sprache, die er nicht mehr verstand, an die Gefühle, die erkaltet waren, und seine erste Liebe war zu ihm zurückgekehrt wie eine begrabene Verlockung. Er wollte nicht fern von seiner Erde sterben, von ihren Fossilien und ihrer Sprache; Mimi repräsentierte die Welt vor der Ternitti, die Zeit, bevor er von der Hybris eines Materials erfahren hatte, das Eternit hieß wie die Ewigkeit, sich aber nicht für fehlbare, äußerst sterbliche Menschen eignete, und für das Tausende von Männern einberufen worden waren.
    Pati verließ Franca ohne Erklärungen, weil er sein Leben als Einberufener ohne Erklärungen verließ und beschlossen hatte, von nun an für immer als Heimkehrer zu leben.
    Man muss bei der Verwirrung in Ippazios Innerem anfangen, bei seinen Versäumnissen, und durch die Krankheit hindurchgehen, die ihn umschlungen hielt. Durch das Rippenfell um die Lungen, das sich verdickt und zur Speiseröhre hin vergrößert hatte, einen unstillbaren Nachtdurst auslösend, eine biblische Plage, die Verdammnis des Menschen, der nicht den geraden Weg genommen hat, um sich vom Strom mitziehen zu lassen. Man muss durch das Schuldgefühl hindurch und durch ein weiteres Gefühl, das der Unausweichlichkeit.
    Pati war nunmehr besiegt. Sogar aus dem Bett zu steigen war ein grausam schmerzhaftes Unterfangen, fast so schmerzhaft wie ein anderes grässliches Symptom: Niesen, bei einem unschuldigen Niesen fuhr ein Krampf durch seine verbliebenen Muskeln wie eine Explosion. Und er fühlte, dass seine Eingeweide sich verhärteten.
    Das ist die Pest.
    Die Pest ist ein demokratisches und zuverlässiges Leiden, es gibt keine Rettung, man teilt sie mit Verbündeten wie mit Feinden. Die Asbestose war eine undemokratische Pest, sie hatte die Unglücklichen getroffen, die mit Asbest gearbeitet hatten, nicht aber ihre Arbeitgeber, die davongekommen waren, doch sie war trotzdem eine Pest, denn die Pest teilst du mit anderen, du weißt, dass sie deinen Kameraden, deinen Nachbarn befallen wird, sie wird kommen ohne Rettung,
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