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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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Santa Sofia bringen.
    Zwei Kilometer von ihrem Haus entfernt lagen die Klippen der Serra,
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, Feigenkakteen und Felszacken. Mimi hatte den ganzen einsamen Sommer zwischen den spitzen Steinen von Scalamacio und Funnuvoiere zugebracht, den beiden felsigen kleinen Buchten des Ortes. Dort hüpfte sie barfuß herum, und wenn man sie so sah, erschien sie wie ein flinkes Meerestier, eine streunende Katze, ein wilder Luchs. Wer sie an sonnigen Tagen suchte, wusste, dass er sie auf einem Felsvorsprung aus Granit finden würde, wo sie in der von Gischt erfüllten Luft hockte, die Arme um die Knie geschlungen, den Duft nach Jod in den Haaren.
    An diesem Herbstmorgen, jahrhundertweit vom Sommer entfernt, grollte Mimi, aber nur für kurze Zeit, dann hatte sie verstanden und traf eine Entscheidung.
    Sie ging zur Haustür, legte die Hand auf das Fensterglas, drückte die Tür vorsichtig auf und rief ihren Eltern einen Abschiedsgruß zu. Eine lange, eindrückliche Sekunde verstrich, dann stieß sie die Tür energisch zu, mit der ganzen Kraft, die sie in den Armen hatte. Der Türrahmen knarrte, man hörte das Knallen der zuschlagenden Tür, gleich darauf kehrte die vertraute morgendliche Stille ins Haus zurück.
    Der Bus, der die Kinder in die Schulen von Tricase brachte, fuhr über den Schotter der Landstraße. Mit hustendem Motor hielt er an, jeden Tag stiegen hier drei Kinder ein. An diesem Morgen waren es nur zwei.
    Mimi hatte die Eingangstür wirklich zugeschlagen und sich auch verabschiedet, aber sie war nicht nach draußen gegangen.
    Sie hatte sich nur einen Augenblick lang von der kühlen Luft aus Wasser und Mistral stechen lassen, dann war sie wieder hinter die Tür geschlüpft, mit angehaltenem Atem und gespitzten Ohren, um jedes Geräusch zu erhaschen, das vom Gewohnten abwich.
    Die Eltern aßen das Frühstück der Bauern, Brot und getrocknete Tomaten, es war acht Uhr, sie hatten schon drei Stunden gearbeitet und genossen diesen Moment der Ruhe. Sie glühten noch von der Plackerei, aber sie waren zufrieden. Aus dem Augenwinkel sah Mimi den Vater mit einem großen Laib Brot vor der Brust, es war wie ein Tier, ein zur Schlachtung bereites Opfertier. Der Mann schnitt das harte Brot mit einem alten Dolch mit abgebrochener Klinge, und die Anstrengung blähte seinen Hals.
    Mimi ging in ihr Zimmer, fand den Bruder noch schlafend. Gebeugt unter ihrem Schulranzen knöpfte sie den langen Filzmantel auf, der sie daran hinderte, sich frei zu bewegen, kniete neben den Beinen des Bettes auf dem Boden, schob einige mit Stoffmustern gefüllte Schachteln beiseite und legte sich unter das Bett, wobei sie die Schachteln sorgfältig wieder an ihren Platz rückte, so dass sie versteckt, fast begraben war.
    Und sie begann zu warten.
    An die Wand gepresst, atmete sie leise, damit keiner sie hörte. Die Mutter kam ins Zimmer, um Biagino zu wecken. Durch einen Spalt zwischen den Schachteln sah Mimi nackte Fesseln in den Holzschuhen aufragen. Die Mutter blieb vielleicht eine Minute im Zimmer, aber Mimi erschien diese Minute wie eine Ewigkeit.
    Biagino rollte wenig später vom Bett herunter. Seine Augen waren noch verklebt vom Schlaf, die zerzausten schwarzen Haare glichen einem umgedrehten Vogelnest, das Gesicht war rosig, eierschalenfarbig. Biagino wusste, dass Mimi unter dem Bett lag, und er stützte sich am Boden auf die Ellenbogen, um sie zu erspähen.
    »Gehst du heute auch nicht in die Schule?«
    »Still, Biagino«, hörte man Mimis Stimme schwach und erstickt hinter den Schachteln hervorkommen.
    »Was gibst du mir, wenn ich dich nicht verrate?«
    »Ich zahle dir eine Spielmarke für den Tischfußball.«
    »Mit wem soll ich denn spielen?«
    »Mit mir.«
    »Ich spiele nicht mit Mädchen.«
    »Ich zahle dir zwei Marken. Aber sei still, Biaggì.«
    Sie blieb den ganzen Vormittag dort liegen, gedeckt vom erkauften Schweigen des kleinen Bruders, in ihr Versteck verkrochen, ein verletzter Vogel, der der kalten, nassen, unliebsamen Welt einen Unterschlupf abgetrotzt hat. Dort blieb sie oft, um nicht in die Schule oder zum Katechismus gehen zu müssen, um sich fernzuhalten von den Jungen, die an ihren langen schwarzen Haaren zogen, vom bösen Gerede der Schulkameradinnen, die ihre Einsamkeiten nicht verstanden, ihre sonderbaren, wirrköpfigen Launen – barfuß über die Klippen der Serra laufen, auf die höchste Stelle klettern und mit einem Purzelbaum von dem flachen Felsen, der »Sprungbrett« hieß, ins Meer springen – etwas für
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