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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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unverständliche Worte in einem verzerrten Deutsch hörte.
    Herr Thaur, der Mann ohne Vornamen und mit unklarem Nachnamen, beaufsichtigte den Mischvorgang, indem er einen kleinen Spaten schwang, der die Mischschaufel genannt wurde.
    Sie diente zur Feinbearbeitung der Formen, die Ippazio und die anderen Arbeiter an der Mischung herstellten. Herr Thaur schritt mit seiner tropfenden Schaufel über das hängende Schutzdach und erschien in den metallischen Lichtern wie ein Riese, ein monströser Golem mit menschlichen Zügen, schwer bewaffnet wie ein kriegerisches Gespenst und zunehmend überzeugt, dass die tieferen, unerforschlichen Gründe für seine Rolle inmitten dieser Italiener auf eine Bestrafung hinausliefen.
    Monatelang bewegte Ippazio sich jeden Tag zehn Stunden lang ohne Unterbrechung auf kleinstem Raum, umgeben von den Dämpfen des Blauasbests, der in den Wannen abkühlte: Kondensat, Mischung, Sieben und Formen. Manchmal vergaß er, dass die Zementgebilde, die sich in Wellen auf den Boden der Gussformen senkten, Asbest waren. Dann ließ Ippazio, der erst seit kurzem volljährig war, sich von der Phantasie weit fort von Zürich an einen lehmigen Strand bringen, wo er die graue, übelriechende Masse modellieren konnte.
    Formen, es waren nur Formen, aber wenn Herr Thaur außer Sichtweite war, zeichnete Ippazio einen Mund, zwei Schlitze für die Augen und ein Loch als Nase, lachte vor sich hin und löschte mit der Mischschaufel alles wieder aus, ein befreiendes Scheitern im Herzen.
    Nach einem Jahr Arbeit war sein Körper verändert: Das Wachstum war stehengeblieben, die Muskeln hatten sich verhärtet, die Widerstandskraft hatte abgenommen. In den ersten Monaten hatte er dreißig, vierzig Mal am Tag sieben können, nach einiger Zeit schaffte er mit Mühe ein Dutzend Mal. Seine Brust schmerzte, und abends konnte er nicht mehr sprechen.
    Antonio Orlando war den Säcken zugeteilt worden, ein paar Monate lang hatte er Jutesäcke mit Krokydolith gefüllt, dann war er zu den Wasserschneidern übergewechselt: Dort spaltete er die Blöcke aus Asbestzement mit präzisen Schnitten. Ein Arbeitsvorgang, bei dem sehr viel Staub aufwirbelte; trotz der Absauganlagen husteten die über hundert Männer in dieser Abteilung am Abend mit heiserer Kehle, als plagte sie eine Bronchitis. Nur einer hatte aufgehört zu husten, das war Governo, der Einzige, der wusste, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, sich zu verdrücken. »Nur die Dummen sterben früh!«, sagte er von Zeit zu Zeit, er sagte es zu sich selbst, aber mit lauter Stimme, wie ein Verrückter, einer, der gehört werden will und gleichzeitig gefürchtet.
    Einmal in der Woche brachte Antonio Orlando den kleinen Biagio zu einem Tischfußballspiel, das nicht weit von der Fabrik in einer Kneipe voller Absperrgitter stand. Das geschah einige Monate lang, jeden Samstag gab es immer wieder dasselbe Bild: Biagio wartete, in den Wollmantel geknöpft, an der Schwelle des Hauses aus Glas, Hand in Hand mit Mimi. Diese Stunde, in der er und sein Vater einander an der Platte aus Kunststoff und Holz herausforderten, war der einzige Moment in der Woche, in dem Biagio glücklich war. Er fühlte sich nicht allein und empfand angesichts der Plastiksilhouetten, die den weißen Ball schossen, ein tröstliches Gefühl, dem er noch keinen Namen zu geben vermochte.
    Eines Samstags schaffte Antonio Orlando es nicht. Das metallische Dröhnen des Riegels, das die Arbeiter beim Verlassen der Fabrik begleitete, hallte durch die Räume. Im Halbdunkel der Flure versammelten sich hier und da die verschwommenen Umrisse des Reinigungspersonals und beugten sich vor, die Augen mit der Hand abgeschirmt, um etwas zu erkennen, was sich in der Ferne bewegte. Es war der letzte Arbeiter. Antonio hatte sich wirklich verspätet. Er streifte seinen Arbeitsanzug ab, die Hose und die Jacke, als wären es Fetzen seines eigenen Körpers. Er spürte, dass alles, was von ihm blieb, sich auflöste.
    Als er nach Hause kam, stand ein stiller kleiner Junge an der Hand einer Kindfrau auf der Bühne seines Blickfelds und wartete. Aber Antonio konnte nicht. »Ich bin sehr müde, heute Abend gehen wir früher zu Bett.«
    »Papa, ich bring Biagino hin«, sagte Mimi mit ernstem Gesicht.
    »Still. Nichts tust du.«
    »Doch, Papa, ich tu es, wer soll denn auf Biagino aufpassen. Siehst du nicht, dass dieser Junge immer brav ist, bockt niemals, ist aber immer allein. Lassen wir ihn ausgehen, damit er ein bisschen Spaß hat.«
    Das
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