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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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Kind stand auf Zehenspitzen, umklammerte die Eisenstangen mit seinen vor Anstrengung weißen kleinen Händen, und die Hälfte seines Gesichts verschwand in der Dunkelheit. Die Augen glänzten, wie Spiegel. Auf der anderen Seite des Spieltischs stand Mimi leicht vorgebeugt, ihre Augen blitzten hinter den fast weißen Wimpern, sie richtete sich auf, schob sich mit der Hand, in der sie den Ball hielt, eine schwarze Strähne aus dem Gesicht, klopfte mit dem Ball auf die Ecke des Spieltischs und warf ihn hinein.
    Der Ball sauste von einer Seite zur anderen. Er klackerte viele Male, und ebensolche klackernden Geräusche erzeugten die Stangen, die Mimi und Biagino zogen und drehten.
    »Nicht kurbeln, das gilt nicht!«, schimpfte Mimi ein paar Mal; ihr Bruder war unaufmerksam, schaffte es nicht, ein Tor zu schießen. Sie hatte die eigenartige Kugel voll grauer klebriger Flecken schon dreimal hintereinander an dem von Biagino manövrierten Torwart vorbei ins Tor schießen können.
    Als es 5:0 stand, beugte sich Mimi zu dem schwarzen Loch hinunter, wo die weißen Kugeln lagen, die aussahen wie Wachteleier, nahm wahllos eine heraus, und nachdem sie die Kugel auf die Tischkante geschlagen hatte, damit der Dotter herauskam, warf sie sie mitten aufs Spielfeld. Das Bällchen prallte einmal vor den Mittelfeldspielern ihres Bruders auf, der ohne eine Sekunde zu zögern einen scharfen Schuss gegen Mimis Torwart ausführte. Tor. Biagio streckte die Zunge heraus, auf der Spitze saß der Rest eines leuchtendroten winzigen Bonbons, eine Stechpalmenbeere.
    Das Match endete unentschieden.
    Als Ippazio seinen ersten Lohn bekam, konnte er nicht fassen, dass er auf einmal so viel Geld in der Hand hatte. In Tricase hätte er mit diesem Geld monatelang als reicher Mann leben können. In Zürich aber reichte es gerade, um in einem Haus aus Holz zu wohnen, einem Haus aus Holz, das noch immer aus Glas war.
    Auch Ippazio wohnte dort, in einem Abschnitt der Glashütte neben den Orlando. Der Raum war klein, aber gemütlich, abends aßen sie Zwieback, eingemachte Tomaten, Dosengemüse und einmal in der Woche Fleisch. Ippazios Vater hatte die Angewohnheit, den einzigen Fleischabend mit einem Liter Wein zu feiern. Während dieser Abendmahlzeiten herrschte wirklich eine Festtagsstimmung. Ippazio knabberte am Zwieback und trank den Wein mit Wasser vermischt, damit er mehr davon hatte, und fühlte sich getröstet von der Röte des Alkohols, der ihm in die empfindlichen Kapillaren der Nase und der Wangen stieg. Je länger er in der Ternitti arbeitete, desto weniger vertrug er den Alkohol, und er dachte, dass es vielleicht nicht schlecht wäre, mit dem Trinken aufzuhören, um mehr zu arbeiten.
    Eines Nachts spürte Ippazio stechende Schmerzen in der Nase und ging auf die Gemeinschaftstoilette der Glasfabrik. Am Ende der Wand aus Glas, wo es am kältesten war, lagen die Latrinen der Männer, doch gleich neben seinem Feldbett befand sich der Waschraum der Frauen. Noch bevor sie den Tagesanbruch wahrnahmen, reihten die Frauen sich hier am frühen Morgen zu einer farbenfrohen Warteschlange auf, in lange Überröcke aus Wolle und Tuch gehüllt, ein Stück grüner Seife in der Hand.
    Aus Trägheit, vielleicht auch, weil er vom Schlaf benommen war, öffnete Ippazio die Tür der Frauentoilette; vor den beiden Waschbecken schwebte das schwache Licht eines Streichholzes, das beim Erlöschen eine silberne Spur in der dunklen Luft hinterließ.
    »Ich bin Ippazio, Entschuldigung, ich habe mich vertan …«, und er wich tastend zurück, um nicht zu stolpern oder gegen die Tür zu stoßen, die hinter ihm zugefallen war.
    Ein zweites Streichholz beleuchtete wenige Sekunden lang das Gesicht der unbekannten Gestalt. Es war Mimi, die Tochter von Antonio Orlando.
    Einen Augenblick lang erschien sie Ippazio viel älter. Ein Mädchen mit kantigem Gesicht, in dem zwei wachsame Augen steckten, die das Dunkel durchbohrten. Sie wirkte sehr groß in dem dunklen Raum, eine riesenhafte Erscheinung, das beleuchtete Gesicht wie ein Heiligenbild, ein Gespenst in der Dunkelheit.
    Er hörte sie schniefen, und genau in dem Moment, als das Streichholz erlosch und der Schein wieder zum schwarzen Schatten wurde, sah Ippazio, wie Mimi sich an die Nase fasste.
    »Tut sie dir auch weh?«
    »Ich habe Frostbeulen«, antwortete sie, und das Wort kam komisch verformt heraus, als hätte sie eine Kartoffel im Mund.
    Ippazio lächelte, aber Mimi konnte ihn nicht sehen. Im Dunkeln hörte man eine
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