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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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Frage.
    »Machst du noch ein Streichholz an?«
    »Ich habe keine mehr.«
    »Schade.«
    »Warum?«
    »Du warst schön.«
    Und Mimi konnte es kaum glauben. Ippazio, der Junge, der ihr Herz schneller klopfen ließ, hatte sie bemerkt.

An Sonntagvormittagen erschien der Fluss Limmat mit seinen knotigen Kräuseln und runzeligen Vertiefungen wie die Sehne eines ungeheuren Säugetiers. Der Nebel verschluckte die Umrisse der Felswand, und hinter dem dunstweißen Himmel strahlte die Sonne. Rings um einen der kleinen Plätze am Fluss versammelten sich die Italiener in Grüppchen, die ein getreues Abbild der Regeln in der Glasfabrik waren, auch hier nach Region und Dialekt getrennt. Die Luft roch immer nach Lindenbäumen, Dieselöl und feuchtem Kies. Die Orlando hatten Freundschaft mit den Surano aus Presicce geschlossen, einem kleinen Ort unweit von Leuca, sie erzählten einander von Bekanntschaften aus längst vergangenen Zeiten, Leuten, mit denen man vor vielen Jahren in die Tabakfelder gegangen war, einmal nur gesehen, aber wegen der Plackerei der Ernte für immer ins Gedächtnis eingebrannt.
    Eine Musikkapelle spielte in der Nähe eines Platzes, wo sich eine kleine deutsche Schänke befand, die am Sonntag italienisch wurde. An diesem Tag überließen die Besitzer, die aus Ostdeutschland stammten, ihren beiden italienischen Angestellten das Lokal. Manche hielten das für eine vernünftige unternehmerische Entscheidung, da sich am Sonntag dort die
terroni
, die Südländer, versammelten, für andere, pessimistischere Zeitgenossen war es der Beweis, dass um die Wassersehne herum nur wenige Einwohner mit denen zu tun haben wollten, die man in der Schweiz
Tschinkeli
nannte.
    In der Schänke gab es einen minderwertigen Wein, der in winzigen Schnapsgläsern serviert wurde.
    »Dieser Wein hat Trauben nicht mal vom Zug aus gesehen!«, schrie Domenico Zanframundo, genannt Mincuccio Vierzunull, weil er nach einem unbedeutenden Fußballspiel Italien–Luxemburg, das mit diesem Punktestand geendet hatte, zum diensthabenden Herrn Thaur von damals gegangen war und ihm vier Finger gezeigt hatte. Mincuccio war vor drei Jahren gekommen und hatte tausenderlei Arbeiten gemacht, bevor auch er in der Ternitti gelandet war.
    Zanframundo spielte Mundharmonika und versuchte, mit seinen falschen Tönen die Blicke auf sich zu lenken, weil er die Beine der Frauen zum Zucken bringen wollte. Aber er war nur ein Schmierenkomödiant, nicht der Musikus, der zur sonntäglichen Sarabande aufspielte, einer lautstarken, aber leidlich guten Sarabande, die in Gang kam, sobald das kleine Sonntagsorchester mit seinen Märschen aufhörte und einer der beiden Angestellten eine Jukebox mit wenigen italienischen Liedern einschaltete: Iva Zanicchi, Ricchi e Poveri, José Feliciano.
    Hier begann manch einer mit Valpolicella im Leib, das Gesicht vom Flusswind gerötet und den Feiertagsnachmittag in den blitzenden Augen, um die Mädchen herumzuschleichen, und in einem solchen Moment, es war an einem Frühlingssonntag, gefiel es Ippazio ohne besonderen Grund, außer vielleicht, den verlegenen Gesichtsausdruck des Mädchens mit den Streichhölzern noch einmal auszukosten, Mimi Orlando anzustarren.
    Ippazio erschien immer zusammen mit einem aus Castrignano, Vope genannt, Schlägerfresse, Stiernacken und Stielaugen auf alle Mädchen, wie der Fisch, nach dem er seinen Spitznamen hatte. Ippazio ließ ihn nie allein, nur einmal wegen Mimi: Nachdem er ihr lange in die Augen geschaut hatte, pflanzte er sich vor ihr auf, die Muskeln um seinen Mund zitterten, als wäre er kurz davor, ein Lied anzustimmen, er stand nur einen Moment lang still, dann improvisierte er zu den Klängen von
Che sarà
im Hintergrund einen kleinen Tanz, damit sie lachte, und auch um die Orlando und Surano, die sich auf einer Bank unter einer Ulme drängten, zum Lächeln zu bringen.
    Doch als Ippazio nur noch zwei Schritte von Mimi entfernt war, die eine Mischung aus Schüchternheit und Freude erstarren ließ, und sie gerade bitten wollte, mit ihm zu tanzen, brach die Musik ab.
    Eine kurze Stille, durchsetzt von leisen Geräuschen aus der Ferne, ein vorüberfahrendes Auto, der Atem der Limmat, ein Flugzeug in der himmlischen Spur.
    »Vierzunull, spiel was für uns!«, brüllte einer, und Mincuccio, der nur darauf gewartet hatte, begann eine neapolitanische Weise zu zerbröseln … aber Mimi war weg.
    Ippazio leerte sein Weinglas. Das einzige Vergnügen, das er sich am Sonntag gönnte. Im Windschatten hatten
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