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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma
Autoren: Brigitte Blobel
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    V ielleicht wird Marvel irgendwann ja wirklich ein Star. Na ja, kein richtiger großer Star. Einen Oscar kriegt er wahrscheinlich nie oder eine Villa in Hollywood, mit Pool und Privatkino. Aber andererseits: Was weiß man schon? Alles fängt klein an, oder?
    Bei Marvel fängt es an einem kühlen und windigen Märzvormittag auf dem Pausenhof an. Im März ist es in Hamburg immer kühl und windig, also erst mal nichts Besonderes.
    In seiner grauen Fleecejacke mit Kapuze, seinen Chucks und Röhrenjeans sieht er aus wie immer. Ein schlaksiger Junge, der noch nie einen Cent seines Taschengeldes für Klamotten ausgegeben hat. Unter der Kapuze trägt er an diesem Tag noch eine Wollmütze, dunkelblau. Seine Mutter hat ihn am Vortag, weil er unter dem schrägen Pony echt nichts mehr sah, zum Friseur geschickt und der hatte wohl einen schlechten Tag. Jedenfalls sah er danach nicht mehr aus wie ein cooler Skater, sondern eher wie einer dieser amerikanischen stiernackigen GIs, die von ihrem Präsidenten in den Irak, nach Somalia oder Afghanistan geschickt werden, um »aufzuräumen«, und das ist peinlich. Er hat sich vorgenommen, die Mütze nicht abzunehmen, bis seine Haare mindestens um zwei Zentimeter gewachsen sind.
    Er schlendert also mit seinen drei Freunden, dem breitschultrigen Bully, Brillenträger Mauki und Bohnenstange Jojo über den Pausenhof, als eine Windböe ihm die Kapuze vom Kopf fegt und sein Freund Bully, der unbedingt Marvels verkorkste Frisur sehen will, die Situation ausnutzt, ihm mit einer blitzschnellen
Handbewegung die Wollmütze vom Kopf zieht und damit losrennt. Marvel hinterher.
    Es ist klar, dass es eine Keilerei geben muss, eine nette kleine Keilerei unter Freunden, denn Marvel prügelt sich eigentlich nicht. Er sagt immer, dass sich nur solche Typen prügeln, die verbal den Schlagabtausch nicht hinkriegen. Er gehört sogar zum Anti-Aggressions-Team der Schule. Aber an diesem Morgen brauchen sie etwas Bewegung. Sie haben in der Stunde zuvor nahezu reglos über einem Grammatiktest gebrütet. Sie brauchen einfach ein bisschen Sauerstoff in die Lungen und in die Muskeln. Deshalb das Gerangel.
    Als Bully am Boden liegt und Marvel seine Mütze wiederhat und als Jojo und Mauki sich über seinen rasierten Nacken wieder eingekriegt haben, kommt eine junge Frau auf Marvel zu. Sie lächelt so wie seine Mutter, wenn sie stark unter Druck ist. Es sieht aus, als fletsche sie ihre Zähne. Ganz eindeutig will sie etwas.
    Marvel taxiert sie. Sie könnte entweder eine neue Lehrerin sein, irgendeine Sozialarbeiterin oder Schulpsychologin (von solchen Leuten wimmelt es ja jetzt an Schulen), aber irgendwie ahnt er, dass diese Frau jemand ganz anderes ist. Und für ihn vielleicht von Bedeutung. Er spürt das an der Art, wie sie ihn nicht aus den Augen lässt, während sie auf die Gruppe zusteuert.
    Er bewegt keinen Muskel, lässt sie kommen. Sein Handgelenk tut ein bisschen weh und möglicherweise wird er, sobald er tiefer durchatmet, Nasenbluten bekommen. Er weiß, dass er sich auf dem Schulhof nicht prügeln sollte. Deeskalation heißt das Zauberwort. Es wird also Ärger geben.
    Die Frau ist jetzt ganz nah und fixiert Marvel so, dass er plötzlich überzeugt ist, sie meint weder Mauki noch Jojo noch Bully, der sich den Pausenhofstaub aus den Augen reibt, sondern
ihn. Sie hat raspelkurze rote Haare und trägt wollene Ringelstrumpfhosen zu einem Lederminirock. Und Handschuhe mit halben Fingern. Sie sieht irgendwie cool aus.
    »Hallöchen«, ruft die Ringeltaube fröhlich.
    Marvel sagt nichts.
    Die anderen quetschen sich etwas, was wie »Moin« klingt, durch die Zähne.
    »Ich hab euch gerade beobachtet«, flötet die Ringeltaube, während sie in ihrem Umhängebeutel kramt. »Ihr rauft ja wie Zwölfjährige. Aber ihr seid doch älter, oder?«
    Auf so etwas gibt ein 15-jähriger Junge aus Prinzip keine Antwort.
    Da zieht sie aus ihrer Tasche, die groß wie ein Kuheuter ist und genauso gescheckt, eine Visitenkarte heraus. »Hier, damit du weißt, wer ich bin.« Sie streckt Marvel einladend die Karte hin und ihm bleibt schon aus Höflichkeit nichts anderes übrig, als sie zu nehmen. Doch sie flutscht ihm, weil er das zu lässig machen wollte, aus der Hand. Das ist etwas peinlich, aber der reaktionsschnelle Mauki hat die Karte schon aus der Luft gefischt und gelesen.
    »Wow!« Er dreht sich zu Marvel um. »Sie ist ein Scout!«
    Mauki war früher mal bei den Pfadfindern, aber Marvel ahnt, dass es sich um einen anderen Scout
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