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Zeitlose Zeit

Zeitlose Zeit

Titel: Zeitlose Zeit
Autoren: Philip K. Dick
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also, daß man für Sie eine sichere, gesteuerte Umwelt baute, in der Sie Ihre Arbeit ohne Ablenkung leisten konnten«, sagte Mrs. Keitelbein. »Und ohne die Erkenntnis, daß Sie auf der falschen Seite standen.«
»Auf der falschen Seite?« sagte Vic empört. »Auf der Seite, die angegriffen wurde!«
»In einem Bürgerkrieg haben beide Seiten unrecht«, sagte Ragle. »Es ist aussichtlos, das entwirren zu wollen. Jeder ist ein Opfer.«
In seinen klaren Perioden, bevor man ihn aus seinem Büro geholt und in die Altstadt gesetzt hatte, war ein Plan in ihm entstanden. Er hatte seine Unterlagen und Papiere sorgfältig gesammelt, seine Sachen gepackt und gehen wollen. Es war ihm unauffällig gelungen, mit einer Gruppe von kalifornischen ›Lunies‹ in einem der Konzentrationslager im Westen aufgenommen zu werden. Die Umorientierung hatte sie noch nicht beeinflußt, und von ihnen hatte er Anweisungen erhalten. Er sollte sich mit einem freien, unentdeckten ›Lunie‹ in St. Louis treffen, an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Zeit. Er war aber nie angekommen. Am Tag vorher hatte man seinen Verbindungsmann gefunden und ihn ausgequetscht. Aus.
In den Konzentrationslagern wurden die Gefangenen einer systematischen Gehirnwäsche unterzogen, aber so nannte man das natürlich nie. Das war Ausbildung auf einer neuen Ebene, eine Befreiung des Individuums von Vorurteilen, von falschen Überzeugungen, von neurotischen Zwängen und fixen Ideen. Es half ihm, reif zu werden. Es war Wissen. Er kam als besserer Mensch heraus.
Als die Altstadt gebaut wurde, unterwarf man die Leute, die dort einzogen und dazugehörten, der gleichen Methode. Sie meldeten sich freiwillig. Alle, bis auf Ragle Gumm. Und bei ihm bewirkte die Methode den vollständigen Rückzug in die Vergangenheit.
Sie haben dafür gesorgt, daß es geklappt hat, begriff er. Ich zog mich zurück, und sie gingen mir nach. Sie behielten mich im Auge.
»Überleg dir das lieber«, sagte Vic. »Es ist eine große Sache, auf die andere Seite zu treten.«
»Er hat sich schon entschlossen«, sagte Mrs. Keitelbein. »Schon vor drei Jahren.«
»Ich gehe nicht mit«, sagte Vic.
»Das weiß ich«, sagte Ragle.
»Verläßt du Margo, deine eigene Schwester?«
»Ja.«
»Du läßt alle im Stich.«
»Ja.«
»Damit sie uns bombardieren und alle töten können.«
»Nein«, sagte er. Nachdem er sich freiwillig gemeldet, sein Privatunternehmen zurückgelassen hatte und nach Denver gegangen war, hatte er etwas erfahren, das die obersten Regierungsbeamten wußten, was aber nie veröffentlicht worden war. Es war ein gut gehütetes Geheimnis. Die ›Lunies‹, die Kolonisten auf dem Mond, hatten sich in den ersten Wochen des Krieges zu Verhandlungen bereiterklärt. Sie bestanden nur darauf, daß man Anstrengungen für eine weitere Kolonisierung unternehme und die ›Lunies‹ nach dem Ende der Feindseligkeiten nicht bestraft würden. Ohne Ragle Gumm hätte die Regierung in Denver nachgegeben. Die Bedrohung mit Raketenangriffen genügte. So weit reichte die Abneigung der Öffentlichkeit gegen die Kolonisten nicht; drei Jahre Kampf und Leiden auf beiden Seiten hatten eine Rolle gespielt.
»Du bist ein Verräter«, sagte Vic. Er starrte seinen Schwager an. Nur bin ich nicht sein Schwager, dachte Ragle. Wir sind nicht verwandt oder verschwägert. Vor der Altstadt habe ich ihn nicht gekannt.
Doch, dachte er. Ich habe ihn gekannt. Als ich in Bend in Oregon lebte. Dort hatte er einen Lebensmittelladen. Ich habe Obst und Gemüse bei ihm gekauft. Er sortierte immer die Kartoffeln, lächelte die Kunden an und machte sich Sorgen, ob etwas verdarb. Näher kannten wir uns nicht.
Ich habe auch keine Schwester.
Aber ich betrachte sie als meine Familie, weil sie in den zweieinhalb Jahren in der Altstadt eine echte Familie gewesen sind, zusammen mit Sammy. Und June und Bill Black sind meine Nachbarn. Ich lasse sie wirklich im Stich, Familie und Verwandte, Nachbarn und Freunde. Das ist Bürgerkrieg. In gewissem Sinn gibt es keinen Krieg, der idealistischer wäre. Heroischer. Er bedeutet die meisten Opfer, die geringsten praktischen Vorteile.
Ich tue es, weil ich weiß, daß es richtig ist. Zuerst kommt meine Pflicht. Alle anderen, Bill Black und Victor Nielson und Margo und Lowery und Mrs. Keitelbein und Mrs. Kesselman – sie haben alle ihre Pflicht getan; sie sind dem treu geblieben, woran sie glaubten. Ich gedenke dasselbe zu tun.
Er streckte die Hand aus und sagte zu Vic: »Leb wohl.«
Vic beachtete ihn nicht.
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