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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Karsten Flohr
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am Morgen. Straßenfeger hatten die Straße vom Schnee geräumt, so dass der schwarze Horch, der neue Dienstwagen des Freiherrn von Schwemer, gefahrlos vorfahren konnte. Sein Besitzer stand am Fenster des Salons und beobachte, wie der Wagen elegant heranglitt und vor dem Tor hielt. »Wurde auch Zeit, noch eine Minute, und er wäre zu spät gewesen.«
    »Mit anderen Worten«, sagte Helène, die hinter ihren Mann getreten war, »pünktlicher kann man nicht sein. Und das bei den Straßenverhältnissen.«
    »Ja, ja, du fraternisierst wie immer mit dem Dienstpersonal, meine Liebe«, sagte er und wandte sich ihr zu. Dann lächelte er. »Du siehst großartig aus, das Kleid gefällt mir – von wem ist es?«
    »Mohrbutter. Es ist ein original Mohrbutter, ein Unikat.«
    Der Freiherr runzelte die Stirn. »Dieser verhinderte Künstler, dieser Schneider, der kein Schneider sein will?«
    Helène von Schwemer seufzte. »Ja, genau der. Er ist der gefragteste Schneider der Stadt. Im Moment wenigstens. Aber ich habe mir das Kleid nicht deshalb machen lassen – es gefällt mir einfach.«
    Der Freiherr trat dichter an seine Frau heran und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Mir auch«, sagte er versöhnlich. »Ich verstehe nur nicht, warum heute niemand mehr zufrieden sein will mit dem, was er ist. Warum will ein Schneider unbedingt Künstler sein? … Oh, da kommt ja die Hauptperson des Tages!«, rief er und wandte sich seinem Sohn zu, der in seiner Husaren-Galauniform in den Salon getreten war. »Das ist doch mal eine Kreation!«, er zeigte auf Wilhelm, »an diesen Uniformen hat sich seit Menschengedenken nichts geändert, und sie sind trotzdem unübertroffen!« Wilhelm blickte an sich herunter und strich verlegen das Jackett glatt. »Danke, Vater.«
    Der winkte dem Hausmädchen, ihm den Mantel zu bringen. »Wir müssen, wir müssen!«, drängte er. »Also, noch mal: Wir sind gegen 16 Uhr zurück, sofern Wilhelm sich nicht wieder verspätet. Ihr bereitet inzwischen alles für den Empfang vor. Die Gäste kommen um 19 Uhr. Und ich möchte, dass meine Tochter ihr fröhlichstes Gesicht aufsetzt! Ich will nicht noch einmal erleben, dass sie den ganzen Abend über das Tanzparkett trottet wie ein Brauereipferd. Sag ihr das!«, rief er seiner Frau zu, während erschon halb aus der Tür war. Plötzlich besann er sich, kehrte noch einmal zurück, gab Helène einen Handkuss und winkte dann seinem Sohn. »Hurtig, hurtig! Dies ist dein Tag!«
    Wilhelm eilte seinem Vater voraus zur Straße, um ihm den Wagenschlag zu öffnen. »Halt!«, rief der und zog Wilhelm an einem Arm zurück. »Du bist ab heute der zweite Mann im Haus, du hältst keine Türen mehr auf. Reinhold wird die Türen öffnen, erst mir, dann dir. Also: Geh um den Wagen.«
    Wilhelm gehorchte und ließ sich vom Chauffeur die hintere linke Tür der Limousine aufhalten, nachdem sein Vater bereits Platz genommen hatte. Als er neben ihm saß, nickte der ihm wohlgefällig zu, als wollte er sagen: Siehst du, war doch gar nicht so schwer!
    »Ist die Kaiserallee noch frei oder haben sie sie schon abgesperrt?«, fragte er nach vorn, nachdem er das kleine Schiebefenster zum Chauffeur geöffnet hatte.
    »Herr Kolonialrat, eben war sie noch frei«, antwortete Reinhold. »Ich denke, wir werden sie benutzen können.«
    »Gut, dann also keine Umwege!«, rief Richard von Schwemer und ließ sich im Lederpolster zurücksinken. »Das ist ein Wagen, was?«, sagte er zu seinem Sohn, klopfte auf die glänzende schwarze Sitzbank und ließ dann seine kleine, fleischige Hand auf Wilhelms Oberschenkel fallen.
    »Wieso sagten Sie eben zu Mutter: Sofern Wilhelm sich nicht wieder verspätet? Ich bin doch da?«
    Der Vater blickte ihn groß an. »Ja ja, du schon. Aber Wilhelm, ich meine: der Kaiser – man weiß nie, wann er kommt. Es soll schon Leute gegeben haben, die schliefen tief und fest, als er sie endlich empfing. Peinlich so was, sehr peinlich.«
    »Ja, aber heute warten Tausende auf ihn. Die wird er doch nicht so lange warten lassen …«
    »Nein, natürlich nicht, da reißt er sich schon zusammen. Aber weißt du«, sagte der Freiherr und zog eine Zigarre aus der Brusttasche seines Fracks, »der Mann hat über 500 Uniformen, für jede Gelegenheit eine, für manche auch mehrere. Und für seinen Geburtstag noch mehr. Da dauert es schon eine Weile, bis er sichentscheidet, welche er anlegt. Und dann der Bart! Du kennst das ja von mir: Man denkt, alles sitzt perfekt, da sackt er ohne Vorwarnung nach unten, und
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