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Sie sehen dich

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Titel: Sie sehen dich
Autoren: H Coben
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1
    Zärtlich streichelte Marianne das dritte Glas Tequila in ihrer Hand und staunte wieder einmal über ihre grenzenlose Fähigkeit, auch noch das Wenige, was in ihrem jämmerlichen Leben gut und angenehm war, zu zerstören, als der Mann neben ihr rief: »Pass auf, Süße, Kreationismus und Evolution sind hundertprozentig miteinander vereinbar.«
    Sein Speichel traf Marianne am Hals. Sie verzog das Gesicht und warf dem Mann einen finsteren Blick zu. Er hatte einen dichten, buschigen Schnurrbart, der direkt aus einem Pornofilm der Siebziger stammen könnte. Er saß rechts neben ihr. Die zu stark blondierte Frau mit den strohigen Haaren, bei der er mit seiner provokanten These Eindruck schinden wollte, saß links neben ihr. Marianne war also das arme Würstchen in einem ziemlich armseligen Hot Dog. Sie versuchte, ihre beiden Nachbarn zu ignorieren. Sie starrte in ihr Glas, als wäre es der Diamant auf ihrem Verlobungsring. Marianne hoffte, dass der Schnurrbartträger und die strohige Blondine dadurch verschwanden. Es funktionierte nicht.
    »Das ist doch totaler Schwachsinn«, sagte die Blondine.
    »Moment, Sie müssen mich schon ausreden lassen.«
    »Okay, ich hör Ihnen zu. Ich halt das aber trotzdem für Schwachsinn.«
    Marianne sagte: »Wollen wir nicht die Plätze tauschen, dann sitzen Sie nebeneinander.«
    Schnurrbart legte ihr die Hand auf den Arm. »Immer langsam mit den jungen Pferden, Lady. Sie sollten sich das auch mal anhören.«

    Erst wollte Marianne protestieren, doch dann schwieg sie lieber, um keinen Streit anzufangen. Sie starrte wieder in ihren Tequila.
    »Okay«, sagte Schnurrbart. »Sie kennen doch die Geschichte von Adam und Eva, ja?«
    »Klar«, sagte Strohhaar.
    »Glauben Sie das?«
    »Dass er der erste Mann und sie die erste Frau war?«
    »Ja.«
    »Nee, eigentlich nicht. Sie etwa?«
    »Ja, klar doch.« Er tätschelte seinen Schnurrbart, als müsste er einen hektischen Hamster beruhigen. »Die Bibel sagt schließlich, dass das so gewesen ist. Erst war Adam da, dann wurde Eva aus seiner Rippe erschaffen.«
    Marianne trank. Sie trank bei vielen Gelegenheiten. Vor allem auf irgendwelchen Partys. Aber auch in Bars wie dieser, in denen sie viel zu oft war  – meist um einen Mann kennen zu lernen, in der Hoffnung, dass sich etwas Ernstes daraus entwickelte. Heute Abend hatte sie allerdings kein Interesse an einer Männerbekanntschaft. Heute trank sie, um sich zu betäuben, und bisher mit großem Erfolg. Wenn sie sich etwas entspannte, konnte sie dem hirnlosen Geplapper zur Zerstreuung zuhören. Es vertrieb den Schmerz.
    Sie hatte Mist gebaut.
    Wie immer.
    Alles auch nur halbwegs Rechtschaffene und Anständige in ihrem Leben hatte sie auf der Suche nach ihrem nächsten unerreichbaren Ziel so schnell wie möglich hinter sich gelassen. Dadurch verharrte sie in einem Zustand ewiger Langeweile mit ein paar wenigen, jämmerlichen Höhepunkten. Sie hatte etwas Gutes zerstört, und jetzt, wo sie versucht hatte, es wieder zurechtzurücken, tja, da hatte Marianne auch das noch in den Sand gesetzt.
    Früher hatte sie vor allem diejenigen verletzt, die ihr am nächsten
standen. Es gab einen exklusiven Club von Personen, die sie emotional verstümmelte hatte  – die Menschen, die sie am meisten liebte. Aber jetzt, in einer neuen Kombination aus Idiotie und Selbstsucht, war es ihr gelungen, auch ein paar Fremde auf die Opferliste des fortlaufenden Marianne-Massakers zu setzen.
    Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erschien es ihr schlimmer, Fremde zu verletzen. Schließlich fügten wir all denjenigen, die wir liebten, Schmerzen zu. Aber wenn man Unschuldige mit hineinzog, gab das ein schlechtes Karma.
    Marianne hatte ein Leben zerstört. Vielleicht sogar mehr als eins.
    Wozu?
    Um ihr Kind zu schützen. Das hatte sie wenigstens geglaubt.
    Blöde Kuh.
    »Okay«, sagte Schnurrbart. »Adam hat also Eva hervorgebracht, oder wie immer man das damals genannt hat.«
    »Das ist doch vollkommen sexistischer Scheiß«, sagte Strohhaar.
    »Aber das Wort Gottes.«
    »Das die Wissenschaft längst widerlegt hat.«
    »Jetzt warten Sie doch mal kurz, schöne Frau, und lassen Sie mich ausreden.« Er hob die rechte Hand. »Hier haben wir Adam … «, dann hob er die linke, »… und hier Eva. Die sind also beide im Garten Eden, stimmt’s?«
    »Stimmt.«
    »Adam und Eva kriegen dann zwei Söhne. Kain und Abel. Und dann bringt Abel Kain um.«
    »Kain bringt Abel um«, korrigierte Strohhaar.
    »Sind Sie sicher?« Er runzelte die
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