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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen
Autoren: Klaus Seibel
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Brief angekündigt hat. Wenn wir die Kameras und das Programm installieren, würde das bedeuten, dass jeder Computerbesitzer auf der ganzen Welt uns beobachten kann.«
    Marina Wirtz, die gleich ihren Bericht über den Brief des Erpressers vortragen sollte, sah bei der Erwähnung der Kameras verstohlen unter die Decke.
    »Der zweite Teil des Programms stellt eine Verbindung zu Skype her. Mit Skype kann man über das Internet telefonieren. Die technischen Einzelheiten erspare ich euch jetzt.« Sina sah in die Runde und lehnte sich zurück.
    Ellen nickte Sina zu und wandte sich an Marina Wirtz. »Diese Art Täter ist nicht unbedingt das Übliche. Was hat der Psychologische Dienst dazu zu sagen?«
    Marina wirkte nicht so selbstbewusst wie sonst. Deshalb tat sie das, was schon unzählige Experten vor ihr getan hatten: Sie spickte ihren Bericht mit zahlreichen Fachbegriffen – und Ellen ließ sie gewähren. Allerdings nur, bis Marina ausgeredet hatte.
    »Sie wissen also nichts«, fasste Ellen zusammen. »Aber danke für Ihren Bericht.«
    Ellen erntete einen bitterbösen Blick, was sie aber nicht weiter störte. Sie ordnete an, die Technik so weit zu installieren, dass eine Kommunikation mit dem Erpresser möglich war, falls der sich tatsächlich morgen melden würde. Die Kameras wollte niemand installiert haben.
    Weil ihr Fahrrad kaputt war, ließ Ellen sich von einer Streife vor dem Mietshaus absetzen, in dem sie wohnte. Die Metallbriefkästen, die im Flur an der rechten Wand hingen, waren schon in die Jahre gekommen. Ellens Vermieter besaß kein Interesse an Investitionen, er war nur auf die Miete scharf. Und die Mieter besaßen kein Interesse an pfleglichem Umgang mit dem Haus. Einige Briefkästen waren ziemlich zerbeult. Besonders der von Hassan Nabil, einem Ägypter, der in der Wohnung unter Ellen lebte. Sein Briefkasten quoll förmlich über. Die neueste Ausgabe eines Sexmagazins steckte nur mit einer Spitze im Einwurfschlitz. Eine nackte Frau sah Ellen lasziv vom Titelbild aus an. Diese Lektüre passte zu Hassan. Wenn sie sich im Treppenhaus begegneten, hatte er für gewöhnlich eine anzügliche Bemerkung auf den Lippen. Am liebsten hätte Ellen die Zeitschrift zerrissen und in die Mülltonne geworfen.
    Im dritten Stock ging ihr Blutdruck in die Höhe. Nicht wegen der vielen Stufen, die schaffte sie spielend. Ursache war die Musik, die durch Hassans Tür drang. Selbst im Treppenhaus war sie laut. Wie konnte man es da drinnen bloß aushalten? Aus Erfahrung wusste Ellen, dass der Krach stundenlang andauern konnte – und sie unfreiwillig in einen reichlichen Genuss des Mithörens kam. Die Etagendecken waren dünn. Leider deckte sich ihr Musikgeschmack absolut nicht mit dem von Hassan. Ellen klingelte zuerst, dann klopfte sie an die Tür. Es tat sich nichts. Wie auch? Bei dem Lärm hörte sie ihr eigenes Klopfen kaum. Jetzt übertönten laute Schüsse den Krach.
    Ellen hieb nochmals fest gegen die Tür. Die einzige Reaktion waren weitere Schüsse. Eine ganze Serie. Hassan saß wohl vor einem seiner Computer-Ballerspiele, seiner absoluten Lieblingsbeschäftigung. Der konnte er mit einer extremen Ausdauer nachgehen, was Ellen schon manche unruhige Nacht beschert hatte. Kurz überlegte sie, ob sie die Tür eintreten sollte. Die Polizei zu rufen, war ihr irgendwie zu blöd. Nachher fragten sich die Kollegen, warum sie nicht selbst mit einer simplen Ruhestörung fertigwurde. Das war der übliche Job für Anfänger. Sie beneidete die alte Frau unter Hassan. Die musste nur ihr Hörgerät ausschalten und hatte ihre Ruhe. Wütend ging Ellen die Stufen zu ihrer Dachetage hoch.
    »Was für ein Tag«, murmelte sie. »Morgens eine Bombe, abends der Krach von diesem Mistkerl.« Dabei war sie sich nicht sicher, was das größere Übel war.
    Beim Betreten der Wohnung kam Ellen eine Wand heißer Luft entgegen. So eine Dachwohnung bot eine Reihe von Vorteilen. Man hatte eine wunderbare Aussicht über die Dächer von Berlin, aber was wichtiger war: Niemand konnte einem in die Fenster sehen. Ellen schätzte es sehr, unbeobachtet zu sein. Ihr Privatleben ging niemanden etwas an. Aber heute entfaltete die Wohnung alle Nachteile. Der Altbau war miserabel isoliert, und die Hitze des Tages staute sich unter dem Dach wie in einem Backofen mit Oberhitze.
    Ellen warf einen Blick auf ihre Wetterstation, dreiunddreißig Grad außen, neununddreißig Komma fünf Grad innen. Dazu eine Luftfeuchtigkeit wie in der Karibik. Nur fehlte in Berlin das
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