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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen
Autoren: Klaus Seibel
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Meer. Sie riss alle Fenster auf, obwohl die Temperatur dadurch kaum abnahm. Aber immerhin fühlte es sich nicht mehr so stickig an. Ein Bad mit kühlem Wasser war die einzige Chance, der Hitze zu entkommen.
    Während Ellen Wasser in die Badewanne laufen ließ, begutachtete sie sich im Spiegel. Die Verletzungen durch den Sturz waren tatsächlich nicht der Rede wert. Jedenfalls in Ellens Augen. Wenn sie von einem intensiven Kampfsporttraining kam, sah sie nicht besser aus.
    Das kühle Wasser in der Wanne tat gut. Voller Hoffnung auf ein bisschen Ruhe tauchte Ellen ganz unter. Es half nur begrenzt. Die Knallerei von Hassan drang selbst durch das Badewasser in ihre Ohren. Nach zwanzig Minuten hatte Ellen genug. Sie stieg aus der Wanne. In der Wohnung waren es immer noch achtunddreißig Komma sieben Grad. Ellen trocknete sich nur oberflächlich ab und setzte sich dann auf ihr zusammengelegtes Handtuch vor ihren Laptop. Sie stülpte sich ihre Kopfhörer über und wählte Musik, die mehr ihrem Geschmack entsprach als das, was Hassan ihr bot. Dann tat sie das, was sie meistens tat, um einen anstrengenden Tag hinter sich zu lassen: Sie surfte im Internet. Hier konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Niemand kannte sie. Niemand zog sie für irgendwas zur Rechenschaft. Hier waren die Grenzen so viel weiter gesteckt als in ihrem Alltag – was gelegentlich dazu verleitete, die alltäglichen Grenzen zu überschreiten.
    Die Entspannung kam langsam. Sehr langsam. Jetzt tat Ellen doch, was sie eigentlich nicht wollte: Sie goss sich ein großes Glas Rotwein ein. Aber irgendetwas brauchte sie, um die Ereignisse des Tages in den Hintergrund zu drängen.
    Der dünne Wasserfilm, der langsam auf ihrer Haut verdunstete, sorgte für ein bisschen Abkühlung. Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und verfolgte ein Video – unbeobachtet, wie sie glaubte. Die nur einen Millimeter große Webkamera, die standardmäßig am oberen Bildschirmrand eingebaut war, hatte Ellen schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt.

3
     
    »Neue Nachrichten vom Bombenleger …«, hörte Ellen in den Frühnachrichten, während sie in der Küche ein Müsli anrührte. Sie stellte die Schüssel so hastig ab, dass ein Schluck Milch über den Rand auf den Tisch schwappte. Tatsächlich, es ging um ihren Fall.
    »Wir haben alle gerätselt, welchen Inhalt das Paket an die Polizei hatte, das bei der gestrigen Explosion gefunden wurde. Inzwischen hat unsere Redaktion eine E-Mail des Erpressers erhalten.«
    Ellen drehte das kleine Radio lauter. Der Sprecher zählte den Inhalt des Pakets auf und verlas die mitgelieferte Nachricht. Es war genau der Text, den Ellen kannte. In diesem Moment wusste die ganze Stadt Bescheid. Mit Sicherheit hatte der Erpresser seine E-Mail auch an die anderen Nachrichtenredaktionen versandt. Man konnte nichts mehr verheimlichen. Jeder in Berlin kannte jetzt die versteckte Drohung und die Forderung an die Polizei.
    Ellen griff zum Handy. »Einen Streifenwagen zu mir nach Hause. Schnell!«
    Einer dunklen Ahnung folgend, ließ Ellen den Wagen an einem Kiosk anhalten. Es war, wie sie befürchtet hatte, eher schlimmer. Alle großen Tageszeitungen brachten die Nachricht des Erpressers, einige sogar auf der Titelseite. Manche zeigten dazu Fotos des Pakets, andere zeigten Fotos von ihr, wie Eberle sie interviewte.
    »So eine Scheiße!«
    Der Kioskbesitzer sah sie überrascht an, erkannte sie aber nicht. Dazu war der Unterschied zwischen der Frau in dem abgerissenen T-Shirt und der Frau, die jetzt vor ihm stand, wohl zu groß. Ellen kaufte von jeder wichtigen Zeitung ein Exemplar.
    In ihrem Büro überflog Ellen die Artikel. Sie boten keine neuen Informationen. Allen gemeinsam war die versteckt oder offen formulierte Frage: Was wird die Polizei tun? Das war tatsächlich die entscheidende Frage – und Ellen musste sie beantworten. Viel Zeit zum Überlegen blieb ihr nicht. Direktor Brahe rief an. Ellen war überrascht, normalerweise war er nicht so früh im Dienst, aber wahrscheinlich hatte er auch die Nachrichten gehört. Ellen ging sofort zu ihm.
    Brahe stand am Fenster und sah hinaus. »Ich habe befürchtet, dass es kompliziert wird. Das öffentliche Interesse setzt uns mächtig unter Druck.« Er deutete auf einige Zeitungen auf seinem Schreibtisch.
    »Die kenne ich schon«, sagte Ellen.
    Brahe ging zum Telefon, nahm den Hörer ab und legte ihn neben den Apparat.
    »Haben Sie eine Vorstellung, was hier gleich los sein wird? Das Telefon wird
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