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Zehn Mythen der Krise

Zehn Mythen der Krise

Titel: Zehn Mythen der Krise
Autoren: Heiner Flassbeck
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erfolgreichen Reparaturen am Kapitalismus als Rückschritt empfinden.
    Das aber ist ein grandioses Missverständnis. Keynesianismus, oder besser: das gesamtwirtschaftliche Denken in keynesianischer Tradition, ist notwendiges theoretisches Handwerkszeug zum Verstehen und Beherrschen jeder Art von wirtschaftlichem System, in dem wir (»die Mehrheit«) leben wollen. Daher ist die Verweigerung dieses Denkens irrational. Wer Technologien und die Wissenschaft nutzen möchte, dabei aber gleichzeitig sagt, er lehne die Mathematik als Technik zur Analyse und Lösung von Problemen grundsätzlich ab, würde sicher als Spinner oder hoffnungsloser Fall betrachtet. Wer jedoch auf der Berücksichtigung von Fakten und gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen als absolut unumgänglicher Technik zur Korrektur des notwendigerweise fehlerhaften einzelwirtschaftlichen Denkens beharrt, gilt bei den »Rechten« als links und bei den »Linken« entweder als rechts oder als unverbesserlicher Fortschrittsfetischist.
    Das lässt sich an keinem Beispiel besser veranschaulichen als an den »Verhältnissen«, unter denen wir nun einmal zu leben haben. Die Verhältnisse in unserer Welt sind eigentlich ganz einfach: Die Menschen auf der ganzen Welt produzieren unter günstigen Umständen mithilfe von Kapital eine bestimmte Menge von Gütern und Dienstleistungen. Diese Menge ist das Einkommen, das der Gesellschaft insgesamt zur Verfügung steht. Jenseits von Verteilungsfragen ist offensichtlich, dass sie dieses Einkommen auch verwenden sollte, weil sonst Güter, die unter erheblichen Anstrengungen und unter Einsatz knapper Ressourcen produziert wurden, auf Halde lägen und verdürben. Folglich würde in der nächsten Periode nicht erneut die gleiche Menge an Waren oder Dienstleistungen produziert, sondern vermutlich eine geringere. Die hergestellte Menge an Gütern und Dienstleistungen begrenzt aber selbstverständlich die Möglichkeiten dieser Gesellschaft nach oben, weil mehr, als produziert wurde, nicht verbraucht werden kann. In diesem Sinne wird eine relativ rational arbeitende Gesellschaft sich immer genau an ihre Verhältnisse anpassen. Beides, der Versuch, unter den eigenen Verhältnissen zu leben, ebenso wie der Versuch, darüber zu leben, sind insofern keine vernünftigen Optionen.
    Und dennoch geschieht auf der Ebene der Nationalstaaten beides laufend. Einige Länder leben fast immer unter ihren Verhältnissen, andere nahezu permanent darüber. Nun ist es angesichts der Verhältnisse zwingend, dass der, der weniger verbraucht, als er produziert (also unter seinen Verhältnissen lebt), demjenigen, der mehr verbraucht, temporär die Verfügungsrechte über seine ersparten Ressourcen einräumen muss, weil sonst die Rechnung nicht aufgehen kann. Der eine gibt einen Kredit, und zwar in der Hoffnung, der andere werde in der Zukunft in der Lage sein, den Kredit zurückzuzahlen. Wobei Zurückzahlen wiederum zwingend heißt, dass derjenige, der bisher Defizite (in seiner Leistungsbilanz, wie die Ökonomen sagen) hatte, in Zukunft Überschüsse haben muss, weil er bei andauernder neuer Nettokreditaufnahme ja niemals etwas zurückzahlen kann.
    In welchem Sinne aber kann man im Lichte so einfacher Überlegungen die Tatsache deuten, dass ein Land wie Deutschland in seiner Geschichte fast immer Überschüsse in seinem Außenhandel aufwies, also unter seinen Verhältnissen lebte, während andere fast immer über ihren Verhältnissen lebten? Die USA etwa hatten in den vergangenen zwanzig Jahren regelmäßig Defizite in der Größenordnung von mindestens fünf Prozent ihres Gesamteinkommens (des Bruttoinlandsprodukts, das mittlerweile bei deutlich mehr als zehn Billionen US -Dollar liegt) und bauten eine entsprechend hohe Verschuldungsposition gegenüber dem Ausland auf. Wer jedoch niemals Defizite akzeptiert und sogar seine Überschüsse mit Zähnen und Klauen verteidigt, muss eigentlich wissen, dass dann ein Großteil der Ressourcen, die er anderen zur temporären Verfügung überlassen hat, endgültig für ihn verloren ist, weil er selbst ja nicht erlaubt, dass die anderen in eine Position gelangen, in der sie zurückzahlen könnten.
    Noch absurder wird es – und hier sind wir mitten in der Eurokrise (vgl. Mythos V ) –, wenn man als Gläubiger den Schuldner-Ländern scharfe Restriktionen auferlegen will, um sie zu zwingen, sich besser an ihre Verhältnisse anzupassen, während man selbst seine Überschüsse verteidigt. Eine solch paradoxe Situation
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