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Zehn Mythen der Krise

Zehn Mythen der Krise

Titel: Zehn Mythen der Krise
Autoren: Heiner Flassbeck
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nicht nur den Geist der unterschriebenen Verträge, sondern auch die allgemeinen Regeln eines fairen internationalen Austauschs von Gütern und Dienstleistungen, in denen schon seit den fünfziger Jahren festgelegt wurde, dass sich Nationen im Fall fundamentaler außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte auch mit protektionistischen Mitteln wehren können.
    Anders als es die beliebte Legende besagt, war es zu Beginn des neuen Jahrhunderts aber gerade nicht die gleichsam »natürliche« deutsche Wettbewerbsfähigkeit durch hohe Produktivität, die nun voll zum Tragen gekommen wäre, sondern ein politisch inszeniertes Lohndrücken, das – welche Paradoxie – erstmals in der deutschen Geschichte von einer rot-grünen Regierung mit letzter Konsequenz durchexerziert wurde. Man muss die Chronique scandaleuse der Agenda 2010 und von Hartz IV nicht noch einmal vorführen, das Ergebnis spricht für sich. Während die Produktivität pro Stunde in Deutschland von 1999 bis 2011 jährlich um 1,2 Prozent stieg (was weder historisch noch im gesamteuropäischen Maßstab ein besonders guter Wert ist), stiegen die Reallöhne (inflationsbereinigte Nominallöhne pro Stunde) nur um 0,7 Prozent (Grafik 4). In Frankreich, um nur das am wenigsten bekannte Beispiel zu nennen (es gibt nur für wenige Länder überhaupt Zahlen je Stunde), stiegen die Reallöhne mit 0,8 Prozent etwas stärker als die heimische Produktivität, und die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland verschlechterte sich erheblich. Die Lohnstückkosten zeigen dieses dramatische Auseinanderlaufen und zugleich, dass Frankreich gegenüber Deutschland massiv an Boden verlor, obwohl es alles richtig machte. [5]
    Auf diese Weise verschaffte sich Deutschland einen Wettbewerbsvorsprung, der im Verlauf von zehn Jahren dazu führte, dass hierzulande produzierte Waren oder Dienstleistungen zwischen 25 Prozent (gegenüber Südeuropa) und 20 Prozent (gegenüber Frankreich) billiger sind als vergleichbare Produkte dieser Länder. Das ist natürlich ein unhaltbarer Zustand und muss zu einem Auseinanderbrechen der Währungsunion führen, weil kein Land der Welt gegenüber seinem wichtigsten Handelspartner einen solchen Rückstand bei der Wettbewerbsfähigkeit gutmachen kann, wenn die Option der Wechselkursänderung nicht zur Verfügung steht, wie das zum Beispiel gegenüber aufholenden Schwellenländern der Fall ist. Unlösbar wird die Situation, wie oben schon erwähnt, wenn der wichtigste Handelspartner sich prinzipiell weigert, einen Verlust eigener Marktanteile hinzunehmen. Dass die anderen ihre Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls ohne Probleme über Lohnsenkungen (im Jargon der Deutschland-Verteidiger wird das inzwischen »interne Abwertung« genannt) wiederherstellen könnten, ist ebenfalls eine Lüge, weil das in tiefer Rezession enden würde und einem klaren Verstoß gegen das gemeinsam festgelegte Ziel einer leicht positiven Inflationsrate gleichkäme.
    Jenseits vieler wichtiger Details, die ich an anderer Stelle dargelegt habe (vgl. Flassbeck 2009, 2010), ist für das Verständnis der Zusammenhänge entscheidend, dass Deutschland sich diesen Vorsprung gerade nicht – wie fast alle Deutschen glauben – erarbeitet, sondern quasi erschlichen hat. Hätte Deutschland von Anfang an darauf bestanden, eine geringere Inflationsrate anzustreben (etwa weil man, wie viele SPD Politiker es heute behaupten, den Chinesen Paroli bieten musste), hätte man es den Partnern in der Währungsunion sagen und ein anderes Inflationsziel anstreben müssen. Wer aber eine Nominallohnsteigerung von jährlich nur 1,6 Prozent realisiert, während die Produktivität um 1,2 Prozent steigt, will nicht eine Inflationsrate von zwei Prozent erreichen, sondern deutlich darunter bleiben.

    Grafik 3: EWU -Länder 1 ): Lohnstückkosten bestimmen Preise
    Anmerkungen: 1) Zwölf Länder: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien; 2) Deflator des Bruttoinlandsprodukts; 3) Bruttoeinkommen in ECU bzw. Euro aus unselbstständiger Arbeit je Beschäftigtem dividiert durch reales BIP je Erwerbstätigem, wo möglich auf Basis von Vollzeitäquivalenten.
    Quellen: AMECO Datenbank, Statistisches Bundesamt (Stand: 11/2011); eigene Berechnungen.

    Grafik 4: Lohnstückkosten 1) in Europa
    Anmerkungen: 1) Index der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten 1999 = 100; 2) Italien, Spanien, Portugal; 3) Preisanstieg von zwei Prozent.
    Quellen:
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