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Wyrm

Wyrm

Titel: Wyrm
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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begreifen oder auch nur beschreiben konnte. Aber er spürte deutlich seine Abwesenheit. Das Licht, das durch die Fenster hereinströmte, schien die Umrisse der Dinge nicht richtig zu erhellen, sondern sie im Gegenteil zu fliehen. Der Anblick erinnerte ihn auf eine schwer in Worte zu fassende Weise an den, den die Farm vom Hang herab geboten hatte: Er erblickte kaum mehr als ein Konglomerat ineinanderfließender Schatten und Grauschattierungen, die in ihrer Gesamtheit einen fast lebendigen Eindruck machten. Er hatte das Gefühl, dass es überall kroch und sich regte.
    »Setzense sich«, sagte Morrison. Er schlug die Tür mit einem Knall hinter sich zu, der in Coppelstones Ohren mehrfach und unheimlich verzerrt widerhallte. Er kam sich gefangen vor; auf eine nie gekannte Art eingesperrt und etwas ausgeliefert, von dem er nicht einmal genau wusste, was es war, und für einen Moment wurde das Gefühl so stark, dass er um ein Haar auf der Stelle herumgefahren und davongestürmt wäre. Aber dann wiederholte Morrison seine Aufforderung und machte dazu eine einladende Handbewegung, und in der künstlichen Dämmerung, die auch seine Gestalt auf wenig mehr als einen formlosen Schatten reduzierte, hatte die Bewegung etwas derart Zwingendes, dass Coppelstone gar nicht anders konnte, als ihr zu gehorchen und sich an dem groben Holztisch vor der Tür niederzulassen.
    »Wollnsene Tasse trinken?«, fragte Morrison. »Ich hab geradne Kanne Malzkaffee aufgebrüht.«
    Allein die Vorstellung, in diesem Raum irgendetwas zu sich zu nehmen, ließ Coppelstones latente Übelkeit zu einem ausgewachsenen Brechreiz werden. Aber Opfer mussten gebracht werden, und so nickte er wortlos und sah zu, wie Morrison sein Gewehr achtlos auf einer Kommode neben der Tür ablud und zum Herd schlurfte. Er hatte eine sonderbare, fast hüpfende Art zu gehen, die von seiner Behinderung herrühren musste und im hellen Tageslicht vielleicht sogar komisch ausgesehen hätte, hier drinnen aber durch und durch unheimlich wirkte. Während er ihm dabei zusah, wie er am Herd hantierte, begann er sich zu fragen, woher Morrisons Verunstaltungen wohl stammen mochten. Die Male in seinem Gesicht hätten von einer Verbrennung herrühren können, aber das erklärte nicht seine anderen Verwachsungen. Vermutlich war er das Ergebnis generationenlangen Inzests; etwas, was in dieser abgeschiedenen ländlichen Gegend häufig vorkam, auch wenn es gerne totgeschwiegen wurde.
    »Bevor wir zum Thema kommen, Mister Morrison«, begann er, während Morrison sich herumdrehte und mit zwei verbeulten Emaillebechern zum Tisch zurückgeschlurft kam, »habe ich leider ein kleines … Problem. Mein Wagen ist oben auf der alten Teerstraße liegen geblieben, und ich fürchte, ich werde ihn aus eigener Kraft nicht wieder frei bekommen.«
    »Aufe altn Teerstraße?« Morrison blieb so abrupt stehen, dass der heiße Kaffee aus seinen Bechern schwappte und ihm über die Hände lief. Er schien es nicht einmal zu spüren. »Om im Wald?«
    Coppelstone nickte. »Ich musste den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen – daher auch der desolate Zustand meiner Kleider. Aber ich fürchte, ich werde nicht auf dem gleichen Wege zurück in die Stadt können.« Dieses Eingeständnis verlangte ihm eine große Überwindung ab, denn es verschlechterte seine Position radikal, machte es ihn, doch in gewissem Umfang zum Bittsteller. Morrison beachtete seine Worte jedoch gar nicht, sondern fragte in fast erschrockenem Tonfall:
    »Sinnse durchn Wald gegang?«
    »Nicht zwischen den Bäumen hindurch, wenn Sie das meinen«, antwortete Coppelstone. »Ich bin der Straße gefolgt.«
    »Sgut«, sagte Morrison. »Nieman sollte durchn Wald gehn.«
    »Wieso?«
    Morrison knallte die beiden Becher auf den Tisch und ließ sich ächzend auf einen Stuhl sinken. »Snich gut, durchn Wald zu gehn«, sagte er. »Sgibt Dinge dort oben, denen ma bessa nich begegnet.« Er wedelte auffordernd mit der Hand. »Trinkense. Malzkaffee schmeckt nur, solanga heiß is. Und danach sachich Francis Bescheid. Er kannse inne Stadt zurückfahn.«
    Coppelstone zog es vor, den letzten Teil seiner Antwort zu ignorieren – auch wenn er im Grunde sehr froh darüber war. Sehr vorsichtig setzte er den Becher an die Lippen, roch an dem Getränk und nippte dann daran. Zu seinem nicht geringen Erstaunen schmeckte der Kaffee ausgezeichnet: würzig und stark, genau wie echter Malzkaffee vom Lande schmecken sollte. Nach dem ersten nahm er einen zweiten, sehr viel
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