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Wuppertod

Wuppertod

Titel: Wuppertod
Autoren: Andreas Schmidt
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1. Kapitel
    Tim Heiger hasste die
Provinz.
    Und alles, was nicht
München oder Berlin war, war für ihn Provinz. Er war ein
Mann von Welt, hatte mit den Filmgrößen in Hollywood
verhandelt und war andere Kategorien gewohnt. Drüben hatte er
sogar schon einige kleinere Rollen in Hollywoodstreifen gespielt.
Seiner Karriere in den Staaten stand eigentlich nichts mehr im
Wege.
    Und jetzt das:
Wuppertal.
    Sein Agent musste
betrunken gewesen sein, als er den Vertrag angenommen hatte. Er
würde ein ernstes Wort mit ihm reden müssen.
    Verächtlich
rümpfte Tim Heiger die Nase. Es war wie damals, in den
später Achtzigern. Er drehte wie ein gerade fertig gewordener
Absolvent der Schauspielschule in Deutschland, in einer
provinziellen Stadt. Heiger blickte aus dem Seitenfenster des
Taxis, das ihn durch Wuppertal kutschierte. Zu viele Erinnerungen
hingen an dieser Stadt. Zu viel war geschehen. Bislang hatte er die
Bilder, die er mit Wuppertal verband, immer erfolgreich
verdrängt.
    Die Häuserzeilen
der Friedrich-Engels-Allee, einer vierspurigen Straße, flogen
an dem Taxi vorüber, teilweise spärlich, teilweise bunt
beleuchtet. Architektonischer Mischmasch. Es schien in dieser Stadt
keinen typischen Stil zu geben. Schieferfassaden neben
Betonbunkern, Fachwerkhäuser neben gläsernen
Bürokästen. Und immer wieder das lindgrüne
Gerüst des Wuppertaler Wahrzeichens, der Schwebebahn. Seit
einiger Zeit wurde das Gerüst zumindest streckenweise nachts
stimmungsvoll beleuchtet. In einem sanften Weiß. Und wenn
eine Bahn den entsprechenden Streckenabschnitt passierte, dann
wurde das Leuchten auf dem Gerüst blau. So entstand
für den Betrachter der Eindruck, eine Lichtwelle würde
über die Stahlkonstruktion schwappen.
    Die Finanzierung der
Beleuchtung war lange Zeit ungeklärt gewesen, und so war man
auf die findige Idee gekommen, so genannte Lichtaktien an
begeisterungsfähige Wuppertaler Bürger zu verkaufen. Ein
heimatverbundenes Völkchen, die Wuppertaler. Sie liebten ihr
Wahrzeichen so wie die Pariser ihren Eiffelturm. Was für ein
Vergleich!
    Tim Heiger seufzte. Er
fragte sich, welcher Teufel seine Schwester geritten haben musste,
als sie sich entschlossen hatte, in Berlin, wo sie aufgewachsen
waren, alle Zelte abzubrechen. Jetzt war sie also verheiratet mit
einem Rechtsanwalt. Einem Wuppertaler Rechtsanwalt. Erst gestern
hatte er mit Michaela telefoniert. Offenbar fühlte sie sich
wohl hier in der Bergischen Metropole. Natürlich würde er
sie und ihren Mann besuchen. Sie wohnten in einem Haus am
Stadtrand. Heiger beugte sich zum Taxifahrer vor, einem dicken
Türken mit langer Nase und dichtem Oberlippenbart. »Wie
lange noch?«, fragte er und fügte in Gedanken hinzu:
… muss ich diese Stadt ertragen?
    »Fumpf
Minutte«, erfuhr er von seinem Chauffeur. Der Fahrer lachte
ihn über den Innenspiegel des Taxis freundlich an. »Geht
jetz' schnell.«
    »Gut.« Tim
Heiger sank seufzend in den Kunstledersitz des Taxis zurück
und fragte sich, wie viele Fahrgäste schon über die Sitze
gekotzt haben mochten. Das Letzte, was Heiger bekannt vorkam, waren
das ibis-Hotel an der Straßenecke und der CineMaxx-Komplex
schräg gegenüber. Direkt daneben eine futuristische
Schwebebahnstation. Man schien tatsächlich zu versuchen,
Wuppertal als Großstadt zu präsentieren. Vergeblich
natürlich.
    Immerhin hatte der
Taxifahrer Recht: An einer großen Kreuzung verließ er
die breit ausgebaute Straße und bog zweimal rechts ab. Vom
Rücksitz des Wagens konnte Heiger noch eine rote Leuchtschrift
erkennen, die an einem Überbau über der Straße in
die Nacht leuchtete. City-Arkaden stand dort in
übergroßen Lettern. Dann wurde die Gegend dunkler und
das blauweiße Glühen des beleuchteten
Schwebebahngerüstes seltener. Nur ab und zu lugte das
Gerüst der Bahn zwischen den Fassaden hindurch.
    Das Taxi stoppte in
einer engen Straße vor einem Parkhaus. Gegenüber
heruntergekommene Fabrikgebäude aus dem 19.
Jahrhundert.
    »Schon
da!«, rief der Taxifahrer vergnügt und schaltete die
Innenbeleuchtung ein.
    »Was?«,
staunte Heiger und beugte sich im Sitz vor. »Hier soll ich
nächtigen?« Er blickte nach draußen in die Nacht.
Hohe Stuckfassaden in einem maroden Zustand, die im Nachthimmel
zusammenzuwachsen schienen. »Hier möchte ich nicht tot
überm Zaun hängen.«
    »Hotel
Metropol«, sagte der Fahrer und deutete durch die
Windschutzscheibe nach vorn. »Da ist Hotel.«
    Tim Heiger, der
erfolgsverwöhnte Schauspieler, folgte dem
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