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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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Die Adler haben sie nur gefunden.«
    Mein Vater drückte seine letzte Zigarette aus und sah mich an.
    »Sie ist vielleicht gefallen«, sagte er. »Sie war vielleicht verletzt. Aber die Adler haben sie getötet. Sie reißen auch Hasen, wenn sie nichts zu fressen haben. Im Winter. Die Scheißviecher.«
    »Wir … wir hätten die Ziege auch irgendwann geschlachtet«, meinte ich. Ich wollte ihn trösten, meinen Vater. Ichwusste so wenig. »Weißt du, ich denke, sie hatte einen schönen Tod. Erst hat sie noch ein Abenteuer erlebt, im Wald. In der Freiheit.«
    »Ja, wir hätten sie irgendwann geschlachtet«, sagte mein Vater bitter. »Und weißt du, Lion, wie viel Fleisch so eine Ziege hat? Wie lange es gereicht hätte?« Er schlug mit der Hand auf den Tisch und plättete die leere Zigarettenpackung. »Ich lasse mir von diesen Biestern nicht meine Ziegen stehlen! Eines Tages kommen sie hierher und bedienen sich auf unserer Weide! Ich sage dir, Lion: Jeden einzelnen Seeadler, den ich erwische, werde ich abschießen. Verlass dich drauf.«
    »Aber …«, begann ich. Und ich wollte ihm sagen, dass er die Adler nicht abschießen dürfe, weil sie so schön waren und so frei, aber ich war erst fünf Jahre alt, und ich fand nicht die richtigen Worte.
    »Zeit fürs Bett«, sagte mein Vater schroff.
    In dieser Nacht stand ich lange barfuß am Fenster und sah hinaus. Es gab nichts zu sehen, es war einfach nur dunkel. Doch ich wusste, dass irgendwo in dieser Dunkelheit der Wald lag, in dem die Seeadler ihre Nester hatten, hoch oben in den Ästen der hohen Kiefern und der alten Buchen. Nur mein Seeadler war ein junger Seeadler ohne Nest, und irgendwo dort draußen flog er herum, rastlos, ziellos, auf der Suche.
    Ich öffnete das Fenster ganz leise und beugte mich hinaus. Die Luft, die hereinfloss, war eiskalt, doch sie roch bereits nach Frühling.
    »Rikikikri!«, rief ich leise, denn ich wollte nicht, dass mein Vater mich rufen hörte. »Rikikikri, bist du da?«
    Ich lauschte lange in die Nacht. Ich bekam keine Antwort. Mein Adler war weit, weit weg. Eines Tages, dachte ich, kommt er wieder.
    Ich würde auf ihn warten.

2. Kapitel
    Man braucht etwas, auf das man warten kann
    D ie zweite Sache, die mein Leben veränderte, war die alte Dame, und die war natürlich keine Sache. Ich begegnete ihr ein oder zwei Wochen später.
    Mein Vater und ich gingen an jenem Tag über die Feldwege nach Wehrland, weil jemand dort einen Hasen kaufen wollte. Der Hase war eingefroren gewesen, ohne Fell, und mein Vater trug ihn in einer Plastiktüte, im Rucksack.
    Die Felder hatten bereits einen leichten grünen Schimmer vom Frühling, der kam. Ich suchte den Himmel nach einem schwarzen Umriss mit breiten kantigen Flügeln ab, aber es war keiner da.
    »Wenn du dauernd in den Himmel guckst, fällst du irgendwann auf die Nase«, sagte mein Vater. »Und außerdem kommen wir so nie an.«
    Also vergrub ich meine Hände tiefer in den Jackentaschen und guckte nicht mehr in den Himmel. Es war seltsam – seit dem Tag, an dem die Adler so dicht über uns hinweggeflogen waren, hatte sich etwas zwischen uns verändert. Als wäre da eine Hecke zwischen uns gewachsen, durch die man sich schlecht unterhalten konnte.
    An einer Stelle führte der Weg durch den Wald. Und ich sah einen Schatten zwischen den Bäumen davonhuschen. Einen Augenblick dachte ich, es wäre ein Kind, ungefähr so groß wie ich. Aber nein, sagte ich mir, es musste wohl ein Reh oder ein Hase gewesen sein. Denn was sollte ein Kind allein hier draußen im Wald, in der Eiseskälte des Nochwinters?
    Ich vergaß den Schatten wieder. Eine Zeit lang.
    Wehrland besteht auch nur aus ein paar Häusern, aber es liegt direkt neben der Durchgangsstraße und sie haben eine Kirche dort. Eine schöne alte Kirche aus großen Steinen, vor der sich die Touristen aus dem Westen gern fotografieren. Im Sommer. Ein schmiedeeisernes Gittertor führt auf den kleinen Friedhof und zur Kirche. Bis dahin war ich nie durch das Tor gegangen. Doch an jenem Tag stand es einen Spaltbreit offen. Wie eine geheime Einladung.
    Der Mann, der den Hasen kaufen wollte, wohnte schräg gegenüber der Kirche hinter einem gelben Zaun, von dem die Farbe abblätterte.
    »Ich glaube, ich gehe nicht mit rein«, sagte ich. »Ich bleibe draußen und spiele ein bisschen.«
    Mein Vater nickte. Er nahm den Rucksack mit dem totgeschossenen, eingefrorenen, aufgetauten Hasen und verschwand hinter einer fremden Haustür.
    Als er sie hinter sich schloss,
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