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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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Ziege?«, fragte ich, nach Atem ringend.
    Mein Vater schüttelte den Kopf und suchte in seinen Taschen nach einer neuen Zigarette.
    »Ich habe sie verloren«, sagte er. »Der Frühling macht die Biester verrückt. Komm. Gehen wir zurück nach Hause.«
    »Aber … wir können die Ziege doch nicht hierlassen«, sagte ich.
    »Die kommt zurück«, sagte mein Vater. »Du wirst schonsehen. Hier draußen gibt es noch nicht genug Grünes zu fressen. Wenn sie Hunger hat, kommt sie.«
    Ich ging neben meinem Vater her, quer über die Felder. Man sah unser Haus schon von Weitem, die Frühjahrssonne ließ das Koboldmoos auf dem Dach grün leuchten, und die Lehmmauern strahlten rotbraun und warm. Wenn ich eine Ziege wäre, dachte ich, würde ich auf dem kürzesten Weg dorthin zurückkehren.
    »Komisch«, sagte mein Vater leise. »An dem Tag, bevor deine Mutter ging, ist auch eine Ziege weggelaufen. Es war genau so ein Tag wie heute.«
    »Und?«, fragte ich. »Ist sie wiedergekommen?«
    »Nein«, sagte mein Vater. Aber ich wusste nicht, ob er die Ziege meinte oder meine Mutter.
    Unsere Ziege kam auch nicht wieder.
    Am Nachmittag gingen wir los, um sie zu suchen. Mein Vater band einer der anderen Ziegen einen Strick um, und wir nahmen sie mit. Man konnte ja hoffen, dass die weggelaufene Ziege ihre Rufe hörte. Ich durfte den Strick halten.
    Wir gingen über die Felder und an den Büschen vorbei, wo die andere Ziege verschwunden war. Wir gingen bis zum Steg im Schilf und wieder zurück. Wir gingen die Straße entlang. Und unsere Ziege am Strick rief brav nach ihrer Schwester. »Mähäää!«, rief sie. »Mähiiie! Komm her, komm wwieder!«
    Aber die andere Ziege kam nicht.
    Als es dämmerte, hatten wir sie noch immer nicht gefunden. Das neblige Zwielicht war voller Schatten; ich umklammerteden rauen Strick fest und ging dicht neben meinem Vater.
    »Was ist, wenn wir sie nicht finden?«, flüsterte ich.
    »Dann holt der Fuchs sie«, antwortete mein Vater. »Oder sie erfriert. Es ist noch zu kalt nachts.«
    Wir wanderten ein Stück auf dem Deich entlang, zu unserer Linken den dunklen Wald, zu unserer Rechten das Schilf und das Wasser. Einmal bewegte sich etwas im Schilf, und die Halme brachen krachend.
    »Wildschweine«, sagte mein Vater. »Besser, man begegnet ihnen nicht. Sie können verdammt wütend werden, wenn sie sich bedroht fühlen.«
    Ich versuchte, mich noch dichter bei meinem Vater zu halten. Kurze Zeit später verließen wir den Deich, um in den Wald hinunterzugehen. Der Deich war steil.
    Mein Vater ging voraus, und die Ziege riss ängstlich an ihrem Strick, denn ihre Hufe rutschten in dem halb überfrorenen Schlick. Ich rutschte hinter ihr her. Und dann verlor ich das Gleichgewicht.
    Jetzt falle ich kopfüber den Deich hinunter, dachte ich, und breche mir beide Beine – aber mein Vater fing mich unten auf.
    Er sagte nichts, lächelte nur, und wir gingen weiter. Aber sehr viel weiter kamen wir nicht. Bevor man in den richtigen Wald kam, musste man zwischen hohen vertrockneten Stauden hindurch, und dahinter über eine Lichtung. Als mein Vater auf die Lichtung trat, blieb er ganz plötzlich stehen. Er streckte die Hand aus, damit ich verstand, dass auch ich stehen bleiben musste. Und ich sah, was er sah.
    Mitten auf der Lichtung, im langen, strähnig braunen Gras, lag etwas. Etwas Regloses. Darauf saßen zwei große Vögel. Riesige Vögel. Seeadler.
    Ich hatte sie bisher nur hoch oben am Himmel dahingleiten sehen, und ich hatte gewusst, dass sie groß waren. Aber ich hatte gedacht, sie wären auf die Weise groß, auf die ein Bussard groß ist. In diesem Moment, auf der eisigen Nochwinterlichtung, begriff ich, dass ich mich geirrt hatte. Und im gleichen Moment begriff ich, auf was sie saßen. Es war unsere Ziege. Der größere der Seeadler war fast so groß wie sie. Fast so groß wie ich.
    Der Wind trug unseren Geruch und die Geräusche unserer Schritte fort, die Adler hatten uns nicht bemerkt. Sie rissen Stücke aus dem Körper der Ziege, und ihre gelben Schnäbel waren rot vom Blut. Ich wollte nach der Hand meines Vaters greifen, doch er schüttelte mich ab. Er brauchte seine Hände.
    »Die Scheißviecher«, knurrte er und nahm sein Gewehr von der Schulter. Die Ziege neben mir stand still wie Eis. Ich spürte ihre Angst durch den Strick.
    Mein Vater lud sein Gewehr. Die Seeadler fraßen weiter. Ich wagte nicht zu atmen. Ich wagte nicht zu denken. Ich hätte mein Blut angehalten, wenn ich gekonnt hätte. Mein Vater legte
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