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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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und voller Geraschel und Gewisper. Voller verborgener Gefahren. Doch wenn ich neben meinem Vater ging, fühlte ich mich unverwundbar. In seinem Schatten war ich sicher.
    Er spielte nie Spiele mit mir, die man mit Kindern spielt. Er tat einfach die Dinge, die er ohnehin tat, und ich durfte ihn begleiten, und das war das Beste daran.
    Im Frühjahr schwebte unser Haus auf einer violetten Wolkeaus blühendem Flieder. Auf den Feldern strahlte der Raps leuchtend gelb, und später blühten die Kornblumen blau wie Wasser und die Mohnblumen rot wie ein Sonnenuntergang.
    Im Sommer machte ich in den Wiesen Irrgärten für mich selbst, indem ich die ungemähten Halme platt trat, und manchmal legte ich mich ins Gras und sah in den hohen Himmel, über den die Kormorane flogen wie geheime schwarze Zeichen.
    Im Herbst kletterte ich in die Wipfel der Bäume und ließ mich vom Wind hin und her schaukeln.
    Und im Winter hingen von unserem Reetdach Eiszapfen, die fast so lang waren wie ich selbst. Dann zogen wir durch die Wälder auf unseren Skiern. Mein Vater hatte sie selbst aus alten Brettern gemacht, und bestimmt gab es bessere Skier zu kaufen, aber für mich waren unsere Holzskier gut genug. Bei Schnee war alles im Wald still und ohne Farbe. Nur die Beeren an den Bäumen leuchteten rot wie Juwelen; und die Hasen saßen mit dummen Gesichtern mitten auf dem Feld und begriffen nicht, dass man sie sah. Das begriffen sie erst, wenn sie das Gewehr meines Vaters hörten, und dann war es zu spät.
    Er brachte mir bei, wie man sie abzog, ehe ich schreiben konnte. Abends briet er ihr Fleisch in der Pfanne, während ich den Ofen mit Holz fütterte. Ich hörte dem Knistern des Feuers zu und versuchte, das unscharfe Bild unseres alten Fernsehers zu erkennen. Und ich roch das Fleisch und wusste, dass es verboten war, Hasen zu schießen. Man brauchte dafür einen Jagdschein und eine Erlaubnis und tausend Dinge, dieGeld kosteten. Mein Vater sagte, man brauchte nur zuverlässige Nachbarn, denen man ab und zu eine Hasenkeule vorbeibrachte und die im Übrigen schön den Mund hielten, falls jemand sie nach Schüssen fragen sollte.
    Hasen gab es sowieso zu viele in der Gegend. Rehe auch. Und Enten. Wir lebten ganz gut in unserer Einöde. Aber das war lange, lange, lange, bevor der schwarze König kam.
    Bevor er kam und meinen Vater fing wie einen Hasen und ihn einsperrte. Aber davon will ich jetzt nicht erzählen. Noch nicht.
    Denn dann passierten zunächst zwei Sachen, die mein Leben völlig veränderten.
    Als die erste Sache geschah, war ich fünf Jahre alt. Es war die Zeit zwischen Winter und Frühjahr, wenn das Eis auf dem Meer zu Schollen zerbricht, die bei jeder Welle aneinanderstoßen wie ein großes klingendes Glockenspiel. Wenn die Möwen und Säger und Blesshühner wieder draußen auf dem freien Wasser schwimmen. Wenn am Boden zwischen den Buchenwurzeln die Schneeglöckchen mit ihren weißen Köpfen wippen und man sich fragt, ob sie bei uns an der Küste nicht Sturmglöckchen heißen sollten, weil es mehr stürmt als schneit. Es war ein Samstag, die Sonne schien, und wir ließen die Ziegen hinaus – zum ersten Mal nach dem Winter.
    »Guck dir an«, sagte mein Vater, »wie sie ihre Nasen in die Luft strecken! Am liebsten würden sie über das Gatter springen und davonstürmen. Sie wittern die Veränderung. Sie wittern, dass etwas geschieht.«
    Und damit, dass etwas geschehen würde, meinte er sicher den Frühling. Es geschah aber etwas anderes.
    Mein Vater schritt die Gemüsebeete ab und zog an seiner Zigarette, während er sie begutachtete. Ich ging ihm nach, doch ich wusste nicht, was es da zu begutachten gab. Es wuchs ja noch nichts. Schließlich sah ich mich nach etwas Interessanterem um, und da stand mitten im Garten eine unserer Ziegen. Ich entdeckte die Lücke im Gatter, durch die sie sich gezwängt hatte. Ich riss am Ärmel meines Vaters.
    »Guck mal!«, rief ich. »Guck doch mal!«
    Wie man das als Fünfjähriger eben so ruft.
    Mein Vater blickte auf. Einen Moment sahen er und die Ziege sich an. Dann drehte sie sich um und rannte. Mein Vater fluchte, ließ seine Zigarette fallen und rannte ihr nach. Ich holte ihn erst ein paar Felder weiter ein. Er war stehen geblieben. Das Feld lag auf einer Anhöhe, und ich werde nie vergessen, wie mein Vater dort stand, am höchsten Punkt des Feldes, auf der dunklen, gefrorenen Erde unter dem hohen hellen Himmel. Wie ein Turm. Wie jemand, dem nichts je etwas anhaben könnte.
    »Wo … wo ist die
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