Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
Vom Netzwerk:
das Gewehr an und zielte.
    Da hob der kleinere Seeadler den Kopf und sah uns an. Seine Augen waren gelb wie sein Schnabel. Nein, er sah nicht uns an. Er sah mich an. Es war ein junger Adler. Einer, der erst im letzten Frühjahr das Fliegen gelernt hatte. Er war, inSeeadlerzeiten gerechnet, so jung wie ich selbst. Und in der Sekunde, als mein Vater schoss, sah ich die Nochwinterwelt durch seine gelben Augen: Ich sah, dass es unter den Eisschollen nicht genügend Fische gab. Ich sah, dass der Wald zu wenig Nahrung bot. Ich sah eine Ziege, die den glatten Pfad vom Deich hinunterrutschte und sich die Beine brach. Ich sah den älteren Seeadler neben mir, groß und stark und unverwundbar, den älteren, in dessen Schatten dem jungen nichts geschehen konnte.
    Dann zerriss der Schuss meines Vaters die Luft, zerriss das Bild, das ich durch die Adleraugen sah. Die Ziege, die lebendige Ziege, zerrte an ihrem Seil, und ich krallte meine Finger darum, während vor uns die Adler mit einem seltsam hohen Schreckensschrei aufflogen. Sie waren zu groß und zu schwer, um rasch aufzufliegen. Als sie ihre Schwingen ausbreiteten, wurden sie noch riesiger. Die Schwingen des alten Adlers waren zusammen so breit, wie mein Vater groß war. Ich sah seine weißen Schwanzfedern, sah seine Krallen, seinen scharfen Schnabel, seine langen braunen Federn – und spürte, wie mein Vater mich zu Boden drückte. Die beiden riesigen Vögel flogen direkt auf uns zu. Sie strichen über unsere Köpfe hinweg; ich spürte den Luftzug ihrer Flügel. Ich sah sogar, dass der junge Adler einen Ring an seinem linken Bein trug, wie eine zahme Taube. Ich fürchtete mich so sehr, dass ich glaubte, ich müsste auf der Stelle vor Angst sterben. Und gleichzeitig wollte ich nichts lieber, als mit den Adlern fliegen. Sie waren das Schönste, das Beeindruckendste, das Wunderbarste, das ich je gesehen hatte. Königlich, prächtig, vollkommen. Obwohl ichfür diese großen Worte mit fünf Jahren natürlich noch zu klein war. Die großen Worte bekam ich erst später geschenkt.
    In diesem Augenblick bekam ich ein Gefühl geschenkt: die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach etwas Unmöglichem.
    Die Adler stiegen auf, stiegen höher, doch der ältere hatte Schwierigkeiten. Er taumelte jetzt durch die Luft wie ein verletzter Schmetterling. Mein Vater musste seinen Flügel getroffen haben. Er schoss noch einmal, und ich zuckte zusammen, als hätte er mich getroffen. Der Adler tat einen letzten Flügelschlag und stürzte vom Himmel wie ein Stein. Ich sah den jungen Adler zögern. Er flog eine Schleife über der Lichtung, als könnte er sich nicht vom Körper des anderen Adlers trennen, der jetzt dort unten lag. Der Ring an seinem Bein glänzte einmal kurz auf im letzten Abendlicht.
    Flieg weg!, wollte ich schreien. Rasch! Der Himmel war so groß und die Freiheit so unendlich, doch der Seeadler flog eine weitere Schleife. Er rief dabei wie ein viel, viel kleinerer Vogel: »Ri-ki-ki-kriii! Ri-ki-krriii!«
    Er rief den alten Adler. »Steh auf!«, rief er. »Flieg wieder mit mir durch die Lüfte, damit ich in deinem Schatten sicher sein kann. Flieg, flieg, ri-ki-ki-kriii!«
    Mein Vater zielte ein drittes Mal.
    Da ließ ich den Strick der Ziege los, und sie rannte über die Lichtung, panisch. Und mein Vater schoss nicht. Er fluchte, ließ sein Gewehr fallen und machte einen Satz vorwärts, um das Ende des Stricks zu packen.
    Und ich hob den Kopf und sah den Adler eine letzte Schleife fliegen.
    »Jetzt flieg fort!«, flüsterte ich, obwohl er das natürlich nicht hören konnte. »Flieg, flieg, Rikikikri!«
    Es war, als spräche ich den Namen des Adlers aus, und vielleicht verstand er mich deshalb. Denn er flog fort. Ich sah ihn mit zwei langen Flügelschlägen emporsteigen in den grauen Dämmerungshimmel des Nochwinters und auf dem Wind davongleiten. Davon, davon, davon.
    Aber ich wusste, dass ich ihn nie vergessen würde.
    An diesem Abend saß mein Vater nach dem Essen lange am Küchentisch und rauchte. Er starrte den Fernseher an, in dem die Leute an diesem Tag alle breit und kurz waren wegen der Bildstörung. Aber er dachte nicht an die breiten kurzen Leute, das sah man. Er dachte an die Ziege, die wir verloren hatten. Der Rauch seiner Zigarette füllte die Luft mit blauen Schwaden, und auf einem Teller vor ihm sammelten sich die Kippen wie ein Ziegengrab.
    »Der Weg den Deich runter war so glatt«, sagte ich leise. »Ich glaube, die Ziege ist da runtergefallen. Ich glaube, sie war schon tot.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher