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Wolfstraeume Roman

Wolfstraeume Roman

Titel: Wolfstraeume Roman
Autoren: Alisa Sheckley
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Wohnblock hatte keinen Portier, der mich einlassen konnte. Ich drückte auf die Klingel, doch Hunter öffnete nicht. Daraufhin versuchte ich es als Erstes bei dem freundlichen Schwulenpärchen mittleren Alters, das die Gartenwohnung mietete, und schließlich bei der immer schlecht gelaunt wirkenden Familie über uns. Nirgendwo war jemand zu Hause.

    Na toll. Ich ließ mich auf dem Asphalt nieder, der voller chinesischer Speisekarten lag, und kämpfte gegen die Tränen an. Falls Hunter mich nicht ins Haus ließ, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich hatte nicht einmal Geld, um ins tiermedizinische Institut zurückzufahren und von dort aus alles zu regeln.
    Natürlich konnte ich einige Meilen zu Fuß durch den Park laufen, aber vermutlich würde ich heute noch meine Periode bekommen. Vielleicht verhielt ich mich in dieser Hinsicht ja etwas verklemmt, aber ich sprach nicht gern wildfremde Frauen an, um sie um eine Binde oder ein Tampon zu bitten. Ich saß nicht einmal gern in einer Toilettenkabine und unterhielt mich dabei mit einer Frau in der Nebenkabine, vor allem dann nicht, wenn sich bestimmte Geräusche nicht vermeiden ließen. Ich führte das auf meine Mutter zurück. Sie war derart darum bemüht gewesen, mir auf keinen Fall ein Schamgefühl für meinen Körper und seine zahlreichen Funktionen zu vermitteln, dass sie mir vermutlich unbewusst ein starkes Bedürfnis nach Intimsphäre eingeimpft hatte.
    Außerdem war Hunter ja zu Hause. Ich musste es nur schaffen, ihn aus seinem Koma zu wecken. Ziemlich verzweifelt drückte ich alle Klingeln auf einmal, um dann ein paar Schritte auf die Straße hinauszutreten und so laut wie möglich »Hunter, ich bin’s!« zu rufen. Gleichzeitig sah ich mich nach einem kleinen Stein um, den ich gegen unsere Fensterscheibe werfen konnte.
    Als ich zu unserem Balkon hochblickte, kam mir eine andere Idee. Ich konnte doch einfach hinaufklettern! Und zwar nicht, indem ich die Mauer hochstieg – das Erdgeschoss bestand aus gelben Sandsteinen aus den vierziger Jahren,
zwischen denen es keine Lücken für Fuß oder Hand gab. Aber die Viktorianer, die unser Nachbarhaus erbaut hatten, waren offenbar noch nicht wegen Einbrechern und ähnlichen dunklen Gestalten besorgt gewesen. Der Architekt hatte den Eingang mit der schwarzen Eisenglastür vielmehr mit dreißig Zentimeter langen Betonziegeln umrahmt, wodurch das Gebäude ein beinahe mittelalterliches Aussehen erhielt. Direkt unter dem Balkon über dem Erdgeschoss war eine kleine schwarze Laterne in die Wand eingelassen. Ein perfekter Griff. Von dort aus konnte ich mühelos unseren Balkon erreichen.
    Ein zwölfjähriges Kind hätte das vermutlich sofort bemerkt. Die meisten Erwachsenen hingegen betrachten die Welt um sie herum nicht mehr unter dem Aspekt, wie man wo hinaufklettern kann – es sei denn, man gehört zur Sparte der Berufseinbrecher.
    Ehe ich meine Seele dem tiermedizinischen Institut verschrieb, hatte ich regelmäßig an der Kletterwand des Chelsea-Piers- Sportsrudios geübt. Ich war gut, wenn es darum ging, methodisch und detailliert vorzugehen, und kam sogar so weit, ein paar Bein- und Pomuskeln zu entwickeln, so dass ich nicht mehr ganz so sehr an einen Laib Weißbrot erinnerte. Dann erhielt ich den Platz für meine praktische Ausbildung am Institut, und mein Leben wurde mir von einem Tag auf den anderen gnadenlos entrissen.
    Das einzige Hindernis für die Kletteraktion zu unserem Balkon war mein Outfit. Hunter behauptete immer, er wäre noch nie einer Frau begegnet, die so viel Geld für einen Sack ausgab. Aber ich kleidete mich nun mal gern in bequemen Klamotten in leuchtenden Farben und bevorzugte dabei jene Art von Kleidungsstücken, die man gut auf
einer Mittelalterveranstaltung hätte tragen können: als Frau eines reichen Zunftgenossen. An diesem Tag hatte ich meine weite braune Eileen-Fisher-Hose aus weicher Baumwolle und eine tiefgoldene Baumwolltunika an, was zugegebenermaßen nicht gerade ideal zum Erklettern einer Hausmauer passte. Ich steckte meine Hosenbeine also in die Socken und sah mich dann um. Schließlich wollte ich nicht, dass mich jemand beobachtete. Zum Glück wohnten in unserem Häuserblock vor allem Opernsänger und ältere Leute, so dass die Polizei nicht oft vorbeifuhr.
    Das Ganze war so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Auf den Ziegeln konnte ich problemlos Fuß fassen und so bis zur Laterne vorstoßen. Sie war fest in der Wand verankert und wirkte solide genug, um draufzusteigen.
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