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Wolfstraeume Roman

Wolfstraeume Roman

Titel: Wolfstraeume Roman
Autoren: Alisa Sheckley
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Vermutlich sah ich wie eines dieser ungraziösen kleinen Mädchen aus, die man manchmal auf Spielplätzen sieht, wenn sie versuchen, ihre stämmigen kleinen Körper an einem Klettergerüst nach oben zu hieven. Aber ich schaffte es schließlich, mich über die gusseiserne Balustrade des Nachbarbalkons zu schwingen. Es gab nur einen kritischen Moment, als ich außen am Balkon entlangbalancieren musste, um dann eine Lücke von circa sechzig Zentimetern bis zu unserem Balkon zu überwinden. Ich wollte gerade einen Schritt nach drüben machen, als ich auf der Straße unter mir einen Hund bellen hörte.
    Ich blickte hinunter. Dort tobte ein aufgeregter Dackel an der Leine eines eleganten Herrn. Der Mann kam mir irgendwie bekannt vor, bis mir einfiel, dass er in unserem Haus wohnte. Du hättest ruhig zwei Minuten früher kommen können, dachte ich gereizt.
    »Was machen Sie da, junge Frau, wenn ich fragen darf?«

    »Das hier ist mein Appartement«, rief ich, »ich wohne hier.« Sein Hund hörte nicht mit dem Bellen auf, sondern gebärdete sich immer hysterischer.
    »Ich werde die Polizei rufen!«
    »Nein, bitte nicht! Ich bin Abra Barrow, Ihre Nachbarin aus 2B.«
    »Warten Sie einen Moment. Kenne ich Sie nicht?« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Sie sind doch dieses Mädchen... diese Schauspielerin.«
    »Nein, ich bin die Tierärztin. Die Tierärztin! Mein Mann hört das Telefon nicht, und ich habe meinen Schlüssel verloren.«
    »Ihren was?«
    »Meinen Schlüssel! Ich habe in der U-Bahn meinen Schlüssel verloren!«
    »Ihre Schüssel?«
    Ein weiterer alter Mann – dünner und mit Bart – trat zu dem Herrn mit dem Hund. »Was macht sie da? Will sie einbrechen?«
    »Nein, nein, es ist ihre Wohnung. Probleme mit dem Ehemann.«
    »He! Sie da! Mädchen!« Der bärtige Mann klang aufgebracht.
    »Hören Sie, es ist alles in Ordnung...« Ich wollte mich ihm zuwenden, um ihn besser sehen zu können. Dadurch rutschte ich ab und hielt mich in Panik an unserem Balkongeländer fest. Dummerweise befand ich mich jetzt in der unangenehmen Lage, dass sich meine Füße noch am Nachbargebäude und meine Hände bereits an unserem Haus befanden.
    »Das Bein rüber! Schwingen Sie das rechte Bein rüber!
Heutzutage wissen die Kinder nicht mal mehr, wie man auf Bäume klettert. Da liegt meiner Meinung nach der Hund begraben.«
    »Als Junge bin ich ständig auf Bäume, Scheunen und Häuser geklettert. In der Ukraine, wissen Sie.« Der Dackel bellte zustimmend.
    Dank dieser moralischen Unterstützung schaffte ich es bis zu unserem Balkon hinüber und blickte dann zu den beiden Männern nach unten. Inzwischen hatte sich auch eine ältere Frau in einem dicken Wintermantel mit einem Fuchspelzkragen zu ihnen gesellt.
    »Ich hab es geschafft. Danke für Ihre Hilfe!«, rief ich nach unten.
    »Nächstes Mal fragen Sie uns einfach. Wir lassen Sie gern ins Haus. Sidney hat die Schlüssel zu allen Wohnungen in diesem Gebäude«, erklärte der bärtige Mann. Ich winkte ihm dankend zu. Viele Leute halten New York für groß und unpersönlich. Der Vorort, in dem ich aufgewachsen bin, konnte tatsächlich ziemlich unpersönlich sein. Die eigentliche Großstadt hingegen besteht aus einer Anzahl von kleinen Dörfern ohne klare Grenzen. In jedem Dorf gibt es eine Heiratsvermittlerin, einen postmodernen Revolutionär und einen Idioten.
    Ich hörte, wie die Frau unten auf der Straße fragte: »Was macht das Mädchen da oben, Grisha?«
    »Sie ist eine Tierärztin mit Männerproblemen.«
    Vielleicht war ich in diesem Fall die Idiotin.
    Ich versuchte, unser Fenster zu öffnen. Zum Glück hatten wir vergessen, es zu verriegeln. Ich schob die Scheibe weiter nach oben und kletterte dann stolz wie ein Eroberer ins Zimmer. Ich kam mir fast wie der Prinz vor, dem es gelungen
war, an Rapunzels Zopf den Turm hochzuklettern, oder wie Robin Hood, als er die Festung des Sheriffs von Nottingham bezwungen hatte.
    Dann wurde mir auf einmal klar, wie ungesichert unsere Wohnung in Wirklichkeit war. Während der drei Monate, die Hunter fort gewesen war, hatte ich das Fenster ständig offen gelassen. Bis zu diesem Augenblick war mir überhaupt nicht bewusst gewesen, dass man mich im Grunde jederzeit überfallen und ausrauben konnte. Wenn es eine bescheiden sportliche Frau von neunundzwanzig Jahren schaffte, an der Wand hochzuklettern und in ihr eigenes Appartement einzubrechen, dann brauchte es dazu nicht einmal einen sonderlich starken Kerl. Jedermann konnte hier
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