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Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall

Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall

Titel: Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
Autoren: Roman Rausch
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Wenn man ganz genau hinsah, erkannte man eine dünne, dunkel scheinende Membran, die sich an der Oberfläche bildete. Sie schwang zart im Wind und wurde durch die leiseste Berührung unterbrochen. Erst wenn man sein Ohr etwas zurücknahm, bildete sich die Membran erneut. Die Kunst bestand darin, das richtige Mittel zwischen Abstand und Nähe zu finden. Dann klappte es. Sagte Julia.
    »Kannst du sie hören?«, fragte sie. »Ganz leise flüstern sie dir zu. Du musst nur darauf achten, dass du ihnen nicht zu nahe kommst. Dann bekommen sie Angst und schweigen. Aber, wenn du’s richtig anstellst, sprechen sie auch mit dir. Vertrau mir.«
    Galina war bis zum Hals in einen dicken Norwegerpulli eingemummt. Auf dem Kopf trug sie eine ebenso dicke Mütze, die sie gegen den kalten Novemberwind schützen sollte. Auf Knien beugte sie sich an Julias Seite am Hang einer mächtigen Düne, die sich über die ganze Bucht erstreckte, in den Sand hinunter. Mit einer Hand hielt sie die wärmende Mütze von ihrem Ohr weg und suchte den richtigen Abstand.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie, »irgendwie krieg ich das nicht hin. Mein Ohr ist schon voller Sand. Ich glaube, ich habe kein Geschick dafür.«
    »Du musst Geduld haben. Bei mir hat es auch nicht auf Anhieb geklappt. Aber es kommt. Sicher. Eines Tages wirst auch du es hören.«
    Galina und Julia standen auf und liefen zum Haus zurück. Der Wind wurde stärker, und das Meer begehrte zunehmend auf. Galina blieb stehen und blickte sehnsüchtig auf die Wellen hinaus.
    »Denkst du jetzt an ihn?«, fragte Julia.
    »Ja. Und es tut weh.«
    »Ich weiß. Schmerz kann töten, aber er kann auch heilen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Den Schmerz, den du jetzt verspürst, wird die Wunde heilen, die er gerissen hat. Eines Tages wirst du aufwachen und feststellen, dass er weitergezogen ist. Zu jemand anderem, der ihn benötigt, um zu vergessen.«
    Galina schaute Julia fragend an. Sie stand lächelnd und wissend vor ihr. Dann nahm sie ihre Hand, und sie gingen in das Haus, das mit Tieren bis zum Dach voll gestopft war, zurück. Auf dem Tisch entdeckte Galina eine deutschsprachige Zeitung. Julia musste sie heute Morgen gekauft haben, als sie unter der Dusche war. Galina schlug sie auf, während Julia Teewasser aufsetzte. Im Mittelteil stieß sie auf einen Bericht, der den verstorbenen Regierungspräsidenten Dr. Wolfgang Stahl zum Thema hatte. Unter der Schlagzeile »Mord an hochrangigem Beamten aufgeklärt« las sie den Bericht laut vor:
    »… ist der neu ernannte Richter Dr. Engelhardt zu dem Urteil gekommen, dass der Tod des designierten Regierungspräsidenten Stahl von einem Mitarbeiter des LKA aus München herbeigeführt wurde. Verschiedene Zeugen hatten bei der Verhandlung berichtet, dass der beschuldigte Beamte während einer kleinen Feier dem Opfer auf die Toilette gefolgt war, wo es offensichtlich zu einem Streit zwischen den beiden gekommen sein muss. Die näheren Hintergründe über dessen Inhalt blieben auch im Laufe der Verhandlung im Verborgenen und konnten nicht gänzlich aufgeklärt werden. Das anschließende Handgemenge, das zum Sturz des Opfers aus dem vierten Stock des Regierungsgebäudes führte, hatte seinen Tod zu Folge. Der angeklagte Beamte wurde in seiner Abwesenheit schuldig gesprochen, da er bis zum heutigen Tag nicht ausfindig zu machen war. Richter Engelhardt bedankte sich in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich bei den ermittelnden Beamten für die schnelle und restlose Aufklärung des Mordfalles.
    Zu einem kleineren Zwischenfall am Rande kam es, als eine offensichtlich geistig verwirrte Frau, die der deutschen Sprache nur ungenügend mächtig war, aus dem Zuschauerraum heraus behauptete, dass nicht der Angeklagte, sondern eine andere Person Stahl aus dem Fenster geworfen hätte. Auf die Frage, wer diese Person gewesen sein sollte, konnte die Frau keine eindeutige Antwort geben. Richter Engelhardt verwies die Frau nach mehrmaligen Ordnungsrufen zur ärztlichen Begutachtung und zur anschließenden Überprüfung durch die Einwanderungsbehörden.«
    Julia stellte zwei Teetassen auf den Tisch und setzte sich zu Galina. »Na, dann ist die Sache ja aufgeklärt«, sagte sie.
    »Otter hat Stahl getötet?«, sagte Galina überrascht. »Auf jeden anderen hätte ich getippt, aber nicht auf dieses schmächtige Männlein.«
    »Wer liebt oder hasst, bekommt ungeahnte Kräfte, von denen er sich in seinen kühnsten Träumen keine Vorstellung macht«, antwortete Julia mit einem Lächeln
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