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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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Angelegenheiten bei der Eisenbahn zuständig. Die letzten Briefe aus dem Jahr 1910, als Pollak an Tuberkulose litt und Mahlers Gesundheit ebenfalls stark angegriffen war, lassen vermuten, dass Pollak Mahler sehr viel bedeutete; er unternahm alles ihm Mögliche, um sicherzustellen, dass dieser die bestmögliche medizinische Behandlung erhielt.
    Pollak stand auch Alma Schindler nahe, der Frau, der die größten Wiener Künstler, Schriftsteller und Musiker der Jahrhundertwende zu Füßen lagen. Das hatte teilweise mit ihrem Aussehen zu tun – für den Dirigenten Bruno Walter war Alma, »groß und schlank und eine blendende Schönheit«, das »schönste Mädchen Wiens« –, teilweise mit ihrer kaum verhohlenen Sinnlichkeit und außerordentlichen Frühreife. Ihre Tagebücher aus den Jahren 1898 bis 1902 zeigen, dass Pollak, obwohl mehr als zwanzig Jahre älter, damals ihr wichtigster Vertrauter war. Sie sprachen über alles, Religion, Musik, Kunst, Literatur und Almas zahlreiche Bewunderer, darunter Klimt, der 1899 gerne eine Affäre mit der Neunzehnjährigen angefangen hätte, und Mahler, ab 1902 der erste ihrer drei Ehemänner.
    Pollaks Name ist vor allem deshalb in die Geschichte eingegangen, weil er Mahler »Die Chinesische Flöte« gegeben hatte, eine von dem Berliner Dichter Hans Bethge herausgegebene Anthologie mit achtzig Gedichten aus der Zeit der Tang-Dynastie, 1907 in Leipzig erschienen und elegant in Seide gebunden, offenkundig zu Geschenkzwecken gedacht. Pollak hatte Mahler ein Exemplar verehrt, höchstwahrscheinlich als Abschiedsgeschenk, als dieser im Dezember Wien verließ, um Chefdirigent der New Yorker Metropolitan Opera zu werden, und Mahler hatte sieben der Gedichte als Grundlage für sein berühmtestes Werk gewählt, »Das Lied von der Erde«, Symphonie und Liederzyklus zugleich, eine neue Kompositionsform.
    Wie andere Berühmtheiten der Jahrhundertwende setzte Mahler oft seine Unterschrift oder Widmung auf eine seiner Fotografien, die er Freunden und Kollegen schenkte. Die Orlik-Radierung war etwas anderes; nicht nur kostete sie weit mehr als eine Fotografie und war deswegen ein viel spezielleres Geschenk, sie galt auch um die Jahrhundertwende als Kunst, zu einer Zeit, da dies selbst bei den besten Fotografien nicht der Fall war. Als ich über die Radierung zu recherchieren begann, waren alle Versionen, die ich entdeckte, nur von Orlik signiert. Ein Wiener Kunsthändler sagte mir später, er habe eine oder zwei gesehen, die beide, Orlik und Mahler, signiert hatten. Der Abzug aus der Wohnung in Cremorne schien der einzige zu sein, den Mahler signiert und gewidmet hatte.
    Die Überschneidungen mit dem, was ich bereits über Moriz und Hermine wusste – das Gefühl, dass sie sich in denselben Kreisen bewegten wie Pollak –, waren auffällig. Moriz und Hermine hatten zwar Emil Jakob Schindler nie kennen gelernt – er starb 1892, als Moriz eben erst nach Wien gekommen war und Hermine noch nicht dort lebte –, sie kauften aber eine seiner Landschaften. Pollak hatte ein Naheverhältnis zu Carl Moll, ebenso Moriz und Hermine, Molls wichtigste Mäzene. Doch die Verbindungen zwischen Schindler, Moll und Mahler waren noch enger: Moll war nicht nur Schindlers bedeutendster Schüler, sondern heiratete nach dessen Tod auch die Witwe Anna und wurde so Alma Schindlers Stiefvater und dann Mahlers Schwiegervater, als der Komponist Alma zur Frau nahm.
    Die gekürzte englische Ausgabe von Almas Tagebüchern – die einzige, die mir anfangs in Canberra zur Verfügung stand – war ähnlich aufschlussreich. Sie zeigte mir, dass Hermine und Alma einander zwar nicht nahestanden, sich aber in denselben Kreisen bewegten. Zum ersten Mal taucht Hermine Anfang 1901 auf, als »Frau Gallia« Alma aus dem Prater abholte und mit ihr zuhause den Tee nahm. In anderen Worten, die dreißigjährige Hermine war Gastgeberin der 21-jährigen Alma in der Wohnung in der Schleifmühlgasse im vierten Bezirk, wo Hermine und Moriz lebten, bevor sie in die Wohllebengasse zogen. Ende 1901 war Alma noch einmal bei Hermine zu Besuch.
    Zu meiner Überraschung wusste meine Mutter mehr. Als ich sie eines Nachmittags besuchte und ihr erzählte, was ich in der Bibliothek herausgefunden hatte, öffnete sie einen Schrank und nahm ein Stück österreichischer Volkskunst heraus, ein kleines, bunt verziertes Holzkästchen voller alter Karten und Briefe, darunter drei von Alma und Gustav. Diese Korrespondenz förderte nicht nur weitere Verbindungen
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