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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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demselben dunkelblauen Stoff überzogen, die sie im Schließfach aufbewahrte. Sie beschäftigten mich auf eine Weise, wie es all der Schmuck nicht tat, weil es nicht klar war, warum sie hier lagen. Gretl erklärte, das seien Goldmünzen, die sie vor ihrer Abreise aus Wien kaschiert hatte, um sie in die Schweiz mitnehmen zu können, ohne dass die Grenzpolizei der Nazis sie ertappte. Sie überzog die Münzen mit Stoff und nähte sie dann statt der ursprünglichen Knöpfe an ihren Reisemantel; aber auch nach der Ankunft in Sydney nahm sie sie nicht aus der Stoffhülle, und so blieben sie ein Talisman ihres Entkommens, ein Symbol ihres Erfolges, den Nazis ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Emil Orlik, Gustav Mahler, 1903. Möglicherweise das einzige Exemplar dieses Porträts mit Widmung und Signatur Mahlers.
    Das Mahler-Porträt von Emil Orlik aus der Wohnung in Cremorne war einer der wenigen Gegenstände, die ich Anne nach Gretls Tod 1975 zu behalten bat; im Jahr darauf starb auch Kathe. Ich wusste wenig über Mahler und nichts über Orlik, doch mir gefiel der Kontrast zwischen der Akribie, mit der Orlik Mahlers Gesicht und Haare wiedergegeben, und den wenigen dünnen, nervösen Strichen, mit denen er Mahlers Rock und Weste angedeutet hatte. Zudem genoss ich den Hauch von Ruhm, der von Mahlers Handschrift auf der Radierung herrührte. Als ich Ende der 1980er Jahre das Porträt im Vorzimmer meines Hauses in Canberra aufhängte, war ich überrascht, dass Besucher, die Mahler nicht erkannten, gelegentlich dachten, er müsse mit mir verwandt sein, da ich ebenfalls hager, knochig und dunkelhaarig war und eine Brille trug.
    Ein Jahrzehnt später initiierte das Porträt meinen ersten Ausflug in die Familiengeschichte. Der Auslöser war Mahlers Widmung; sie galt nicht einem der Gallias, sondern Mahlers »liebem Freunde« Dr. Theobald Pollak »zur Erinnerung an das Original«. Anne hatte mir erzählt, dass Theobald Pollak einer von Gretls Nennonkeln war, sie nannte ihn Onkel Baldi; sonst wusste ich nichts. Ich wollte mehr über Pollak erfahren, um ein Gespür dafür zu bekommen, zu welcher Art Menschen Moriz und Hermine ein Naheverhältnis gehabt hatten. Und ich wollte unbedingt wissen, warum Mahler Pollak die Radierung gegeben hatte und wie oft er seine Porträts jemandem widmete. Hatten Moriz und Hermine Mahler gekannt?
    Theobald Pollak war in der Australischen Nationalbibliothek leicht zu finden. Ich musste bloß in den Namensregistern der Bücher über Wien um 1900 nachschlagen und erfuhr, dass Pollak in der riesigen Sekundärliteratur über Mahler einen kleinen Platz einnahm. In den Tagebüchern von Mahlers Frau Alma Schindler kam er häufig vor. Er tauchte im Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und Alban Berg auf, beide Schlüsselfiguren in der Entwicklung der Zwölftonmusik. In den Büchern war zu lesen, dass Pollak Hofrat im k.k. Eisenbahnministerium war, seine Abende, Wochenenden und Urlaube aber mit vielen der bekanntesten Wiener Maler, Musiker, Architekten und Designer verbrachte, darunter Gustav Klimt und Josef Hoffmann. Zu Pollaks engsten Freunden gehörte Emil Jakob Schindler, Almas Vater, der führende österreichische Landschaftsmaler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein weiterer Freund war Carl Moll, der bedeutendste Kunstunternehmer um die Jahrhundertwende und zugleich einer der besten Maler.
    Das eindringlichste schriftliche Porträt Pollaks lieferte 1911 Alban Berg, als er versuchte, Geld für den beinahe mittellosen Arnold Schönberg aufzutreiben. Viele der reichsten Wiener Kulturmäzene lehnten es ab, etwas zu geben, Pollak aber beeindruckte Berg dadurch, dass er sofort zustimmte, monatlich einen kleinen Betrag beizusteuern. Berg beschrieb Pollak als »eigentümlichen« Mann mit einem »unerhört korrekten, ja vielleicht pedantischen Ehrbegriff u. Ehrgefühl«. Pollaks Leben habe »mit den beispiellosesten Entbehrungen« begonnen, dann habe er sich »dank seinem Fleiß und seinem Trieb nach Höherem in innerlicher sowohl als äußerlicher Beziehung« weit emporgearbeitet. Pollaks Beziehung zu Mahler ergab sich schrittweise aus dessen Korrespondenz. Die frühesten Briefe von 1903, als Mahler Pollak wahrscheinlich das Orlik-Porträt schenkte, enthüllen, dass die beiden einander öfter sahen, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, die sich aus ihren unterschiedlichen Lebenssituationen ergaben: Mahler war Direktor der Wiener Hofoper, Pollak als Staatsbahnrat für Personal und sanitäre
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