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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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zwischen den Gallias und den Mahlers zutage, sondern zeigte auch, dass Moriz und Hermine zu den Verehrern gehörten, die jedes Stück Mahleriana hochhielten und alles aufhoben, mochte es auch noch so unbedeutend sein, was entweder Gustav oder Alma berührt hatten. Das Bemerkenswerteste war ein vierseitiger Brief an Hermine, höchstwahrscheinlich 1901 verfasst, in dem Alma sich entschuldigt, weil sie Hermine am Tag darauf nicht treffen kann. Dazu gab es zwei Ansichtskarten, darunter eine Korrespondenzkarte der Mahlers mit dem Bild ihrer Villa am Wörthersee; dort verbrachten sie Anfang der 1900er Jahre jeden Sommer, entflohen der Hitze in der Stadt, während Gustav sich dem Komponieren widmete. Der Hauptteil des Textes auf dieser Karte, die Hermine im Juli 1903 erhielt, stammte von Pollak; Alma schrieb einfach »Herzliche Grüße an Sie und Ihre liebe Familie«, während Gustav seinen Namen dazusetzte.

Die Postkarte, die Theobald Pollak, Alma und Gustav Mahler im Juli 1903 an Hermine schickten; sie zeigt die Sommervilla der Mahlers.
    Bis ich diesen Quellen nachging, hatte ich mich nie in die Literatur über das Wien des Fin de siècle vorgewagt, schon gar nicht daran gedacht, etwas dazu beizutragen. Obwohl ich als Kind und Erwachsener etliche Male in Wien gewesen war, war das nicht meine Stadt. Ihre Kunst, Architektur und Musik gefielen mir, doch die Kultur und Geschichte, die Politik und Gesetzgebung, mit denen ich mich befassen wollte, waren die Australiens, der neuen Heimat meiner Familie. Die Bücher, die ich schrieb, die Ausstellungen, die ich kuratierte, die Umweltanliegen, die ich voranzutreiben unternahm, setzten den Versuch meiner Mutter fort, sich in Australien zu assimilieren, sie waren ein Mittel, mich australischer zu machen.
    Ich hatte auch nie vorgehabt, etwas zu dem hinzuzufügen, was über die Gallias geschrieben worden war, seit in den 1960er Jahren das Wien der Jahrhundertwende internationales Interesse zu erregen begonnen hatte. In Büchern und Katalogen über Kunst und Design wurden sie meist als Mäzene Klimts und Hoffmanns erwähnt; Moriz und Hermine kamen aber auch in Büchern vor, die sich mit der Rolle Wiens als eines der geistigen und kulturellen Zentren des frühen 20. Jahrhunderts befassten. Die Gallias tauchten in der Debatte darüber auf, ob es die Juden oder zum Christentum konvertierte Juden waren, die Wien jene kulturelle Bedeutung verliehen, die es vorher und nachher nicht erreichte.
    Auch über Jüdisches wusste ich nichts, obwohl ich als Fünfzehnjähriger mit meiner Mutter auf dem Rückweg von unserer zweiten Europareise in Israel gewesen war. Der Grund lag nicht bloß darin, dass ich ein Atheist war, der noch nie eine Synagoge betreten und keine Ahnung vom Talmud hatte; ich war einfach beinahe völlig von jüdischer Gesellschaft und Kultur abgeschnitten. Als ich Claire Young kennenlernte, mit der ich zwanzig Jahre lang zusammenlebte, hatte ich keine Ahnung, was sie meinte, wenn sie sich als Schickse bezeichnete. Ohne Romane – besonders James Micheners »Die Quelle«, das ich mir in meinem zweiten Gymnasialjahr 1970 als Preis für das fünftbeste Zeugnis aussuchte, und »Exodus« von Leon Uris, das ich ungefähr um dieselbe Zeit las – hätte ich beinahe nichts von jüdischer Geschichte gewusst.
    Ich hatte auch wenig Ahnung davon, was in den Schränken meiner Mutter lag. Das Kästchen mit der Mahler-Korrespondenz hatte ich nie gesehen. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, Anne könne noch Dokumente haben, die Aufschluss über die Stellung von Moriz und Hermine in der Wiener Gesellschaft gaben. Doch als meine Bibliotheksrecherchen und die Briefe in Annes Kästchen ein ganzes Netz von Beziehungen zwischen den Gallias, Mahlers, Pollak und Moll aufdeckten, gewann ich ein Bewusstsein dafür, was an Möglichkeiten vorhanden war. Wien mochte außerhalb der Themen gewesen sein, über die ich schreiben wollte; nun rückte es nach innen.
    Anne hatte nicht vor, mir auf die Sprünge zu helfen. Dass ich über sie schrieb, war das Letzte, was sie wollte. Hätte sie vor ihrem Tod 2003 ihr Leben für bemerkenswerter gehalten, ich hätte vielleicht gar nicht angefangen. Aber sie beteuerte hartnäckig, es sei nicht interessant. Bruce und ich versuchten ihr das auszureden und scheiterten. Eltern haben es an sich, dass sie in Auseinandersetzungen gerne das letzte Wort haben wollen und auch bekommen, solange ihre Kinder noch jung sind, die Lebenden allerdings haben es den Toten voraus, das
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