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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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vorarbeitete. Allmählich kam ich zu der Ansicht, für die Geschichte der Sammlung sei es genauso wichtig, wie Anne sie verkauft hat, als wie Moriz und Hermine sie erworben hatten. Der Umgang Annes mit ihrem Erbe lieferte ein Beispiel dafür, wie eine von Familienmitgliedern, die sich auf die beste Beratung und den erlesensten Geschmack stützen konnten, aufgebaute Sammlung oft ein, zwei Generationen später durch einen Nachkommen zerstreut wird, der bei weitem nicht jenes Kunstverständnis und wenig oder gar keinen Sinn für sein oder ihr Erbe besitzt. Annes Erfahrungen machten zudem deutlich, wie wehrlos ein naiver Mensch auf dem Kunstmarkt ist.
    Diesen Fragen ging ich auf zugleich unpersönliche und persönliche Art nach. Hin und wieder beschäftigte ich mich mit Hermine, Gretl und Anne wie mit irgendwelchen anderen historischen Figuren, ich suchte Material, um ihr Leben zu rekonstruieren, ohne besonders emotional beteiligt zu sein oder auf neu Aufgefundenes sonderlich zu reagieren. Manchmal wiederum verließ ich mich auf meine direkte Kenntnis und meine Einsicht in die Familie und griff auf Spuren eigener Erinnerung zurück, versuchte heraufzubeschwören, was man mir erzählt hatte oder was ich erlebt zu haben glaubte. Von dem Augenblick an aber, als ich mich in die Tagebücher in Annes Schrank vertiefte und entdeckte, dass sie in der »Kristallnacht« einen schönen Abend in der Wiener Oper verbracht hatte, konfrontierte und erschütterte mich die Vergangenheit auf eine Art, wie ich sie nie erlebt hatte.
    Besonders fielen mir die Kontinuitäten und Umbrüche quer durch die Generationen auf: wie manche Verhaltensmuster aufgegeben und andere wiederholt wurden, obwohl sie unvernünftig waren. Wie Anne kämpfte ich mit dem Vermächtnis, aus einer reichen jüdischen Familie zu stammen, doch anders als sie begann ich, das Judentum als Teil meiner Identität zu akzeptieren, während mich der ostentative Konsum von Hermine und Moriz schockierte und es mich genierte, der Urenkel eines solchen Magnaten zu sein. Wo immer ich mich hinwandte, fand ich mehr als vorausgesehen oder gewünscht, nicht nur weil ich länger zu schreiben hatte als erwartet, sondern auch, weil mich die Arbeit oft auf ein Terrain führte, das ich lieber nicht betreten hätte.
    Ich erkannte allmählich, dass die Gallias, so außergewöhnlich sie in ihrer Hinwendung zu moderner Kunst und modernem Design um die Jahrhundertwende sein mochten, und so großes Glück sie gehabt hatten, nach dem »Anschluss« mit dem Großteil ihrer Sammlung entkommen zu können, doch in vieler Hinsicht Geschöpfe der Konvention und Nachläufer einer Mode waren, mochte es nun um ihre Wagner-Leidenschaft gehen, um den Tango oder um die Einstellung zu Sex und Ehe. Bei aller Individualität waren sie zum großen Teil typisch für die Juden, die Ende des 19. Jahrhunderts aus den Kronländern der österreichisch-ungarischen Monarchie zugewandert waren und Wien bis Ende der 1930er Jahre mindestens ebenso sehr bereicherten, wie es sie bereicherte – und dann verschwanden sie alle mit unglaublicher Geschwindigkeit aus der Stadt, von der sie angenommen hatten, sie würde für immer ihre Heimat sein.
    Ich sah auch, dass trotz der breiten Diskussion, in welchem Umfang die Kultur des Wien der Jahrhundertwende von Wiener Juden geschaffen wurde, nur Alexander Waughs »Das Haus Wittgenstein« und etwas später Edmund de Waals »Der Hase mit den Bernsteinaugen« eine der Familien, die zu den großen Kulturmäzenen gehört hatte, näher unter die Lupe genommen und über einige Generationen hinweg ihre Geschichte erzählt hatte. Mochte das Interesse an Wien noch so groß sein, es gab sonst kein Buch, das untersuchte, woher eine dieser Familien stammte, wie sie zu ihrem Vermögen gekommen war, wofür sie es ausgab, mit wem sie verkehrte, wie sie es in religiösen Dingen hielt und was aus ihr und ihren Besitztümern wurde. Falls es solches Material für andere Familien gab, dann hatte es keiner ausgewertet. Ich wollte dieses Buch über die Gallias schreiben und aus dem, was von der »Straße des Wohllebens« geblieben war, machen, was ich konnte.

I

HERMINE

Klimt
    DIE VON GUSTAV KLIMTS Bruder Georg geschaffenen Bronzetüren öffneten sich um elf Uhr vormittags. Aber nicht jeder war willkommen in dem kleinen, weiß-goldenen, tempelähnlichen Gebäude in der Wiener Friedrichstraße, das Ornamentales mit Asketischem verband und die Architektur der Stadt ebenso bereicherte, wie es das Kunstleben
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