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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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Nahm ich sie als gegeben hin, weil sie so vertraut waren? Wusste ich ihre Merkwürdigkeit zu schätzen? Ich glaube, ich betrachtete sie als genau das, was man bei einer Großmutter eben erwartet, während mir klar war, dass sie sich von der Einrichtung anderer Häuser oder Wohnungen, die ich besuchte, ganz und gar unterschieden. Ich weiß, dass mir nie in den Sinn kam, sie könnten wertvoll sein, da sie es nach Ansicht Gretls, Kathes und Annes ja nicht waren. Sie wussten zwar, dass die meisten Sammelstücke der Familie vor ihrer Flucht aus Österreich aus der Mode gekommen waren, die internationale Neubewertung der Wiener Jahrhundertwende aber, die in meiner Kinderzeit begann, ging an ihnen mehr oder minder vorbei. Sie wussten nicht, dass die erste größere Ausstellung der Werke Gustav Klimts 1965 vom Guggenheim Museum in New York veranstaltet wurde, weil Klimt »in den Fokus der modernen Wahrnehmung« gerückt war. Sie wussten nicht, dass Wiener Kunsthistoriker sich allmählich fragten, was aus den Bildern ihrer Familie geworden war; »gegenwärtiger Aufenthaltsort unbekannt«, hieß es.
    Nicht die Wohnung, wo die Türen einfache Schlösser hatten und Gretl und Kathe kaum auf Sicherheit achteten, betrachtete ich als die Schatzkammer der Familie, sondern ein Bankschließfach in einem riesigen marmorverkleideten, mosaikgeschmückten Gewölbe im Stadtzentrum. Wenn ich mit Gretl dorthin ging, blickte ich voller Ehrfurcht zu den uniformierten Wächtern, dem vergitterten Eingang und der immensen Stahltür hoch. Gretls und Kathes Schließfach hatte die doppelte Standardgröße. Wie die Schatullen Gretls in der Wohnung in Cremorne waren sie vollgestopft mit Schmuck. Doch hier lagen keine Halbedelsteine, sondern Diamanten, Saphire, Rubine, Smaragde und Perlen in Gold- und Silberfassungen. Wenn ich diese Halsketten, Ohrringe, Broschen und Ringe zu Gesicht bekam, zu flüchtig, um mein Herz an sie zu hängen, erkannte ich an der Art, wie Gretl mit ihnen umging, dass sie viel wertvoller waren als die Stücke in der Wohnung: Sie nahm immer bloß eines heraus, um es im Konzert oder Theater zu tragen, und brachte es wieder zurück, wenn sie ein anderes anlegen wollte.
    Wäre es nach Gretl gegangen, hätte sie Bruce und mich, da bin ich mir sicher, gern mit Geschichten über ihr Leben in Wien unterhalten, so wie ihren besten australischen Freund John Earngey, den sie im Laufe der Jahre als Stiefsohn betrachtete. Sie hätte erzählen können, während wir in der Wohnung in Cremorne saßen, umgeben von ihren wienerischen Erbstücken. Noch mehr hätte sie mir berichten können, wenn wir in die Stadt fuhren und ein Geschäft nach dem anderen besuchten, das von österreichischen Flüchtlingen geführt wurde, wovon ich keine Ahnung hatte. Aber Anne hatte Gretl gebeten, es nicht zu tun, wir sollten so australisch wie möglich werden, und Gretl hatte sich daran gehalten.
    Nicht einmal »The Sound of Music« brachte sie zum Reden, als sie 1965 mit Bruce und mir ins Kino ging und wir zum ersten Mal einen Film sahen, in dem nicht nur der »Anschluss« vorkam, sondern der auch in Gegenden spielte, die Gretl am meisten bedeuteten – Salzburg und das Salzkammergut, wo sie 27 Sommer verbracht hatte. Ich erinnere mich, wie wir aus dem Kino in die Wohnung zurückkehrten, wie ich meinen Block holte und die Nazis mit ihren Pistolen zeichnete, die die Trapps an der Flucht zu hindern versuchten. Meiner Erinnerung nach machte ich diese Zeichnungen, ohne eine Ahnung zu haben, dass Gretls, Kathes und Annes Entkommen weitaus bemerkenswerter gewesen war als das der Trapps. Mir war nicht klar, dass der Baron, Maria und die Kinder nie im Leben vom Salzkammergut über die Alpen in die Freiheit der Schweiz hätten gehen können, denn die lag mehr als 160 Kilometer Luftlinie entfernt im Westen. Ich wusste nicht, dass die Trapps einfach zum Bahnhof gegangen waren und den Zug nach Italien genommen hatten, was kein Problem war, da sie ja die österreichische wie die italienische Staatsbürgerschaft besaßen. Ich weiß, dass Gretl zwar das Buch »Die Trapp-Familie. Vom Kloster zum Welterfolg« gelesen hatte, aus dem deutlich hervorging, dass das meiste im Film Erfindung war, typischerweise aber nichts sagte.
    Meiner Erinnerung nach handelte die einzige Geschichte, die Gretl mir je über ihre Flucht erzählte – beinahe das Einzige, was sie mir über ihre ersten 42 Jahre in Österreich berichtete –, von vier dünnen runden Plättchen, alle gleich groß, alle mit
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