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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Autoren: Tim Bonyhady
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erzog sie mich – sie ließ den Kreisel tanzen, bastelte Papierketten, lehrte mich Brettspiele, Kartenspiele, Wortspiele. Sie beeindruckte mich mit ihrer Kunst, Rauchringe zu produzieren, und zeigte mir, wie man Seifenblasen macht. Als ich sechs oder sieben war, fabrizierte sie ein Buch für mich. Mein erstes Werk über Kunst schenkte sie mir, als ich neun war. Und sie lieferte mir den Stoff für das erste Buch, das ich selber schrieb, ich war zehn oder elf Jahre alt.
    Die Wohnung bedeutete mir noch mehr, weil sie einfach immer zur Verfügung stand. Anne, Bruce und ich zogen ständig um, nachdem Anne und mein Vater Eric sich kurz nach meinem fünften Geburtstag 1962 getrennt hatten, Gretl und Kathe aber blieben in Cremorne, die Möbel standen am selben Platz, der Inhalt der Vitrinen änderte sich nie. Mehr als 45 Jahre danach geht mir die Telefonnummer von Gretl und Kathe so leicht von der Zunge wie andere, die ich jetzt kenne, während mir keine einzige von denen mehr einfällt, die wir hatten, als ich ein Junge war.
    Meine schönsten Weihnachten feierte ich in der Wohnung mit Gretl, Kathe, Anne und Bruce. Wir schmückten einen Baum – ursprünglich bloß ein großer Fichtenzweig, dann eine kleine Plastiknachbildung – und stellten eine alte bemalte Holzkrippe mit Figuren von Maria und Josef auf den Tisch. Wir stellten die Karten zur Schau, die Gretl von den »Neuaustraliern« bekommen hatte, denen sie per Fernkurs Englisch beibrachte, einige arrangierten wir auf dem Kaminsims und den Anrichten, andere nagelten wir am Türrahmen fest, noch mehr baumelten an Fäden. Bis zum Weihnachtsabend, an dem wir uns nach europäischem Brauch beschenkten und unser Weihnachtsessen verzehrten – Schweinebraten mit Apfelsauce, Plumpudding mit eingebackenen Dreipennystücken –, waren es Hunderte Karten geworden.
    Am meisten von allen Schaustücken mochte ich den »Nickchinesen«, der in der großen Vitrine in der Veranda einen Ehrenplatz einnahm. Der Prototyp war von der berühmten deutschen Porzellanmanufaktur Meißen zu Beginn des 18. Jahrhunderts hergestellt worden; der unsere stammte vom Ende des 19. Jahrhunderts. In ihrer Kinderzeit war er der Liebling von Gretl und Kathe gewesen, später dann von Anne und schließlich von Bruce und mir. Gretl und Kathe besaßen etliche andere Porzellanfiguren, der Nickchinese aber war die einzige mit beweglichen Teilen, bei weitem die unterhaltsamste, einem Spielzeug ähnlichste. Man musste bloß seinen Kopf und seine Hände berühren, um ihn in Bewegung zu setzen. Da saß er dann mit gekreuzten Beinen im geblümten Gewand mit Goldkragen, mit einem unerhört dicken Bauch, riesigen Ohren und hauchdünnen Augenbrauen, sein Kopf wackelte vor- und rückwärts, seine Zunge glitt raus und rein, und seine Hände schlenkerten hinauf und hinunter.
    Ich hatte noch etliche andere Lieblingssachen. Es gab eine Kugel aus silbernem Gitterwerk, sie sollte eigentlich einen Knäuel Bindfaden aufnehmen, in meiner Kindheit jedoch war sie immer leer; sie lag der Form, nicht der Funktion wegen da. Es gab Gretls Schmuckschatullen, voll mit Amethysten, Granaten, Rosenquarz und anderen Halbedelsteinen, die ich zu sortieren versuchte, was mir aber nie gelang, zu voll waren die Schatullen. Ich hatte ein eigenes Schatzkästchen, überzogen mit schön marmoriertem Papier, mit einem bemalten Glasdeckel und einem Spiegel am Boden, das mir Gretl schenkte, obwohl es zu zierlich zum Gebrauch war und so klein, dass man kaum etwas hineintun konnte. Es gab fünf große geriffelte Silbervasen, die ich deswegen sehr mochte, weil nach dem Putzen mit Silvo die angelaufene Oberfläche wieder so schön glänzte. Bruce und ich fanden auch heraus, wie man die größere der beiden schwarzen Anrichten neu nutzen konnte; unten waren links und rechts zwei Abteile, dazwischen vier Schubladen, in denen das beste Familiensilberbesteck verstaut war. Bruce und ich waren fasziniert davon, dass jedes Tafelgerät seine speziell geformte Aussparung in den vier Schubladen besaß, doch es war der Raum unter diesen Laden, der uns am meisten anzog. Er war knapp dreißig Zentimeter hoch, dreißig Zentimeter breit und fünfzig Zentimeter tief – zu klein, um für Erwachsene von Nutzen zu sein, aber ideal für kleine Kinder. Er wurde unser liebster Zufluchtsort, wenn wir Verstecken spielten, besser noch als die Beine des großen Tisches, die so dick waren, dass ich mich dahinter unsichtbar wähnte.
    Ich frage mich heute, wie ich all diese Sachen sah.
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