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Wohin mit mir

Wohin mit mir

Titel: Wohin mit mir
Autoren: Sigrid Damm
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Giovanni in Laterano. In der Lateranbasilika gibt es ein Fresko
fragment von Giotto zur Verkündigung des ersten Heiligen Jahres 1300, diese Basilika ist die älteste Roms, die erste Kultstätte des Christentums. Über dem Hochaltar in den aus Silber getriebenen Kopfreliquiaren werden in einem Tabernakel die Schädel der Apostel Petrus und Paulus verwahrt. Und die Inschrift über dem Portikus lautet: Caput et Mater ecclesiarum Urbis et Orbis , Haupt und Mutter der Kirchen der Stadt und des Erdkreises.
    Metrolinie A, San Giovanni, sagte Tobias beim Frühstück, und mit der Zweistundenverzögerung durch Stromausfall und Sicherheitsdienst machten wir uns gestern auf den Weg.
    Das haben wir nicht erwartet. Schon vor der Porta San Giovanni Menschenmassen. Den ankommenden Bussen entströmen sie, die unterschiedlichsten Sprachen sind zu hören, offenbar Pilgergruppen aus aller Herren Länder; auffällig die älteren Frauen, viele in Nonnentracht.
    An dem geschichtsträchtigen Ort auf dem weiten Platz vor dem Laterangelände Absperrgitter, Ordner in blauen Uniformen, barsche Anweisungen, Lautsprecherdurchsagen; die Anmutung einer touristischen Großveranstaltung. Ein enormes Aufgebot an Polizei. Im Gegensatz zu den Ordnern sind die Polizisten stumme Figuren, sie stehen unbeweglich in der Menge, geben keinerlei Anweisungen, scheinen eine Art Sicherheitsgarantie zu sein, sie befinden sich nicht auf italienischem Staatsgebiet, San Giovanni in Laterano ist Teil des Vatikanstaates.
    Das Drängen, die laute Atmosphäre, die vielen Gläu
bigen. Es ist aussichtslos, nur in die Nähe der Basilika, geschweige in ihr Inneres zu gelangen. Wir geben auf. Auf dem Rückweg, schräg gegenüber dem Lateranpalast ein geöffnetes Kirchenportal, auch hier viele Menschen, aber es gelingt uns, in den Vorraum einzutreten. Ein schockierendes Bild bietet sich uns: eine hohe steile Treppe ohne Geländer, die zu einem hellerleuchteten Raum führt; die Treppe ist voller Gläubiger, alte und junge, mit Rucksäcken und Einkaufsbeuteln rutschen sie Stufe um Stufe mühsam auf den Knien nach oben. Es soll die Treppe aus dem Palast des Pontius Pilatus sein, die Jesus zum Verhör hinaufstieg. Vor mir tauchen die schreienden, vor der hölzernen Muttergottes auf die Knie fallenden Frauen in Syrakus auf, ein für mich unbegreifliches, mich befremdendes Geschehen wie auch dieses hier; zugleich das Gefühl, ein Voyeur zu sein, ein unzulässiger Zeuge einer intimen Handlung. Tobias hat sich abgewandt, empfindet offenbar ähnliches, wir verlassen die Kirche Santissimo Salvatore della Scala Santa.
     
    Der ruhige Tag. Ich klappe mein Notizbüchlein zu. Der Sohn, noch immer auf dem wackligen Sofa, schlägt vor, eine Stunde nach draußen zu gehen. Einfach so, ohne Besichtigungsprogramm.
    Wir gehen zum Tiber, und plötzlich rauscht es, ein Flügelschlagen, ein Krächzen, Tausende von Vögeln über uns. Ein Schwarz, dann ein helles Grau, je nachdem wie dicht die Vögel beieinander sind, sie bilden Formationen, die sich auflösen, blitzschnell verändern. Schwarz-Weiß-Grafiken am Himmel. Die Masse der
Tiere direkt über uns. Der unsichtbare Dirigent der Tausenden; ein faszinierendes Schauspiel, eine Vogelperformance. Tobias hält es mit seiner Videokamera fest.
    Zurück. Die Via del Corso ist am frühen Nachmittag des zweiten Weihnachtsfeiertages relativ menschenleer. Die verschlossene Haustür, mein schwerer Schlüsselbund, die marmornen Treppen, die verzierten Eisengitter des Fahrstuhls, im zweiten Stock das Museum, mein Schlüssel im Sicherheitsschloß. Als wir die Tür öffnen: der unvergleichliche Geruch, der faszinierende Anflug von Morbidität, so Tobias. Museumsbesucher möchten nicht unbedingt davon empfangen werden, sind wir uns einig. Es sei denn, sagen wir uns, es gibt hierzulande viel mehr Trüffelkenner als wir annehmen, die würden den Geruch – wie wir – genüßlich einsaugen im Glauben, Goethe gebe ein Gastmahl.
    Dennoch, beruhigt registrieren wir: Zwei Tage schon ist die Casa geschlossen, und auch morgen, am Montag, wird sie noch zu sein. Und wir machen uns an unser zweites Festessen; im Kühlschrank lagert noch in seinen sieben Hüllen die zweite Hälfte der kleinen Knolle. Heute genießen wir in Ruhe, von keinem stürmischen Klingeln unterbrochen.
    Am späten Abend legen wir eine Kassette ein, sehen uns Fellinis »Roma« an.
     
    27. Dezember
    Himmlisch – schon den dritten Tag kann ich ausschlafen.
     
    Frühlingshaft warm, 18 Grad, Sonne.
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