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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt
Autoren: Kristin Hannah
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bestand allerdings noch ein himmelweiter Unterschied.
    Warum war das denn nicht für jeden vernünftigen Menschen offensichtlich?
    Richterin Myerson überprüfte etwas in den Akten, die vor ihr lagen, nahm dann ihre Brille ab und legte sie neben sich auf das Pult.
    Im Saal wurde es wieder ganz still. Julia wusste, dass die Journalisten eifrig Papier und Stift gezückt hielten. Draußen standen ihre Kollegen, bereit, auf ein entsprechendes Zeichen hm aus dem Saal und in ihr jeweiliges Redaktionsbüro zu eilen. Die Artikel samt den dazu gehörigen Schlagzeilen waren längst fertig, nun hieß es nur noch, das Urteil abzuwarten und die zutreffende Version auszuwählen.
    Die Eltern der getöteten Jugendlichen, die sich auf den hinteren Bänken zu einer traurigen Gruppe zusammengefunden hatten, hofften darauf, in der Annahme bestärkt zu werden, dass die Tragödie hätte abgewendet werden können. Dass eine Person in einer einflussreichen Position das Leben ihrer Kinder hätte retten können. Sie hatten ausnahmslos alle am Geschehen Beteiligten verklagt - die Polizei, die Rettungshelfer, die Psychologin, das Pharmaunternehmen, die Ärzte, die Familie Zuniga. In der modernen Welt glaubte man nicht mehr an sinnlose Tragödien, es passierten nicht einfach schlimme Dinge, nein, jemand musste schuld sein und dafür bezahlen. Die Familien der Opfer suchten in diesem Prozess verzweifelt nach einer Erklärung, aber Julia wusste, dass das Verfahren sie höchstens eine Weile ablenken und ihnen vielleicht die Möglichkeit geben würde, ihrem Kummer ein wenig Luft zu machen. Doch letztlich konnte kein Prozess der Welt ihren Schmerz lindern, er würde sie alle überdauern.
    Die Richterin wandte sich zuerst an die Eltern der toten Jugendlichen. »Es besteht kein Zweifel daran, dass sich am 19. Februar in der Baptistenkirche von Silverwood eine furchtbare Tragödie ereignet hat. Ich bin selbst Mutter, doch ich kann den Schmerz, den Sie in den letzten Monaten durchlebt haben, nicht wirklich ermessen. Die Frage, über die dieses Gericht zu entscheiden hat, lautet aber, ob Dr. Cates dafür angeklagt werden soll.« Sie faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Dr. Cates im Sinne des Gesetzes und unter den gegebenen Umständen nicht die Pflicht hatte, die Opfer zu warnen oder anderweitig zu beschützen. Mehrere Gründe haben mich zu diesem Schluss gebracht. Erstens belegen sowohl die Fakten als auch die Aussagen der Kläger, dass Dr. Cates über keine spezifischen Erkenntnisse verfügte, wer die möglichen Opfer einer Gewalttat sein könnten. Zweitens sieht das Gesetz nicht vor, dass ein Mensch die Pflicht hat, andere zu warnen, es sei denn, es gibt eindeutig identifizierbare potenzielle Opfer. Zuletzt müssen wir im Dienste des Allgemeinwohls die Vertraulichkeit der Therapeut-Patient-Beziehung aufrechterhalten, solange es keine spezifischen, als solche erkennbaren Drohungen gibt, aufgrund derer es angeraten zu sein scheint, den Therapeuten von seiner Schweigepflicht zu entbinden. Faktisch, nach ihrer eigenen Aussage und in Übereinstimmung mit den Erklärungen der Kläger, hatte Dr. Cates in diesem Fall also nicht die Pflicht, die Opfer zu warnen oder anderweitig zu schützen. Daher weise ich die Klage gegen sie ohne Einschränkungen ab.«
    Auf der Zuschauertribüne brach die Hölle los. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, war Julia auf den Beinen und wurde von ihrem Verteidigungsteam umarmt und beglückwünscht. In dem ganzen Trubel hörte sie die Journalisten zur Tür laufen und den Marmorkorridor entlangrennen. »Sie ist raus!«, brüllte jemand.
    Eine Woge der Erleichterung durchströmte sie. Gott sei Dank!
    Doch aus dem hinteren Teil des Saals vernahm sie auch die Stimmen der trauernden Eltern, die ihrer Empörung Luft machten.
    »Wie ist so was nur möglich?«, rief einer von ihnen. »Sie hätte es schließlich wissen müssen!«
    Frank berührte Julia am Arm. »Nun lächeln Sie schon, wir haben gewonnen!«
    Noch einmal blickte sie kurz nach hinten, dann wandte sie sich ihm zu, obwohl ihre Gedanken bereits wieder ins Dunkel der Selbstvorwürfe abschweiften. Hatten diese Leute nicht doch recht? Hätte sie die Gräueltat vorhersehen müssen?
    »Es war nicht Ihre Schuld, und es ist Zeit, dass Sie das den Menschen mitteilen. Jetzt haben Sie endlich die Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen ...«
    In diesem Moment stürzte sich ein Schwärm Reporter auf sie.
    »Dr. Gates! Was haben Sie den Eltern
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