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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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können. Obwohl, andererseits bin ich froh, dass wir den Zug genommen haben, ich habe schon lange davon geträumt. Fast so wie davon, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren.«
    »Der Zug des Todes!«, sprach Mauro mit düsterer Miene. »Der einzige Zug auf der Welt, von dem man nie weiß, ob er auch tatsächlich ankommt …«
    »Ah, lassen Sie das, Mauro«, lachte Elaine, »Sie ziehen das Unglück sonst an …«
    Der Zug des Todes, der so hieß, weil sich regelmäßig irgendwelche Unfälle oder bewaffnete Überfälle ereigneten, verband Campo Grande mit dem bolivianischen Santa Cruz. Kurz vor der Grenze hielt er noch einmal in Corumbá, der kleinen Stadt, wo die beiden vom Rest ihrer Expeditionsgruppe erwartet wurden, den Professoren Detlef H.-G. Walde, Spezialist für Paläozoologie an der Universität von Brasilia, und Milton Tavares junior, Lehrstuhlinhaber am Geologischen Institut und dessen Direktor. Um die Kosten der Expedition niedrig zu halten, waren Elaine und Mauro im Kastenwagen bis nach Campo Grande gefahren, zur letzten noch über Straßen erreichbaren Stadt am Rande des Mato Grosso. Sie hatten das Fahrzeug in einer Werkstatt untergestellt – Detlef und Milton, die nach Corumbá geflogen waren, würden es auf der Rückfahrt dort abholen – und bis zum Morgengrauen am Bahnhof gewartet. Dieser Zug war die reinste fahrende Antiquität, mit einer Dampflok wie aus dem Wilden Westen, die Waggons mit Holzlatten verschalt, deren Anstrich verwittert war, und mit Spitzbogenfenstern. Die Abteile hatten etwas von Schiffskajüten an sich dank des lackierten Mahagonifurniers und des Waschtischs mit seinem kleinen Becken aus rosa Marmor. In einer Ecke hing sogar ein Ventilator aus vernickeltem Stahl an einer Kardan-Aufhängung; einst musste das der Gipfel des Luxus gewesen sein. Heute jedoch konnte man sich kaum mehr vorstellen, dass aus dem Wasserhahn je etwas Flüssiges gekommen war, so sehr hatte der Rostfraß seine Formen entstellt, die Kurbel des Fensters drehte durch, die gummierten Führungsschnüre des Ventilators waren seit Urzeiten gerissen, alles starrte derart von Dreck und der Velours der Bänke war so voll Mottenfraß, dass man sich unmöglich vorstellen konnte, in welcher fernen Zeit das Ganze das Inbild von Komfort und Modernität gewesen sein sollte.
    Die Hitze wurde unerträglich; Elaine wischte sich die Stirn und schraubte ihre Feldflasche auf. Unter Mauros gutmütigen Blicken versuchte sie, das Ruckeln des Zugs auszugleichen. Da wurden im Flur Stimmen laut. Eine Frau übertonte das Rumpeln der Achsen, sie schien Himmel und Hölle herbeischreien zu wollen. Mehrere Personen eilten nach hinten, gefolgt von einem fettleibigen Schaffner mit halbaufgeknöpfter Uniform und schief sitzender Mütze, der kurz vor ihrer offenen Tür keuchend stehen blieb. Die Schreie wurden womöglich noch lauter, bis zwei dumpfe Schläge, unter denen die Wände wackelten, das Fenster klirrte und der Ventilator klickte, sie augenblicklich zum Verstummen brachten.
    Mauro stand auf. »Ich geh mal nachschauen.«
    Er schlängelte sich zwischen den den Flur verstopfenden Gepäckstücken hindurch, bis er ein Grüppchen erreichte, das den Schaffner umstand. Der hatte sich mit einer Brandaxt bewaffnet und versuchte, eine Toilettentür einzuschlagen.
    »Was ist denn los?«, fragte Mauro einen der phlegmatischen Bauern, die das Schauspiel verfolgten.
    »Nichts. Irgendein
desgraçado
hat eine Frau ausgeraubt. Jetzt hat er sich da drin eingeschlossen und will nicht mehr rauskommen.«
    Zehn Minuten lang mühte der Schaffner sich mit der zugesperrten Tür herum. Er holte aus, versetzte dem massiven Holz einen gewaltigen Hieb, der das Fett seines Doppelkinns wackeln ließ, verschnaufte kurz, holte dann erneut aus. Mauro war beeindruckt von der tiefen Gelassenheit dieses Gewaltausbruchs und mehr noch von dem zufriedenen Nicken, das ihn begleitete.
    Als die Tür endlich in Trümmern hing, fand man drinnen einen armen Besoffenen, auf der Klobrille schlafend, ein Portemonnaie im Schoß. Nachdem der Schaffner die Beute des Strolchs untersucht und konfisziert hatte, zerrte er ihn aus dem Abort heraus. Ein Passagier griff mit zu, sie transportierten ihn bis auf die hintere Plattform, wo sie ein paar Sekunden warteten und ihn dann aus dem Zug kippen ließen. Mit stockendem Atem sah Mauro den Körper wie einen Sandsack auf die Böschung purzeln. Der Mann kullerte auf die Seite, als suche er eine bequemere Position, bedeckte sich
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