Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
Vom Netzwerk:
in der Ellenbeuge eine Ader schwoll.
    »Mach eine Faust«, sagte sie und gab Thaïs das Ende des Gürtels.
    Sie tränkte einen Wattebausch mit etwas Eau de Toilette und tupfte die Stelle ab. Mit angehaltenem Atem und mühsam bezwungenem Zittern näherte sie die Nadel der gewählten Ader.
    »Hast du ein Glück, dass du so dicke Venen hast. Bei mir ist das jedes Mal ein Gestochere ohne Ende …«
    Thaïs schloss die Augen. Den allerletzten Moment der Vorbereitung konnte sie nicht mit ansehen, den Augenblick, wenn Moéma leicht am Kolben zog: Dann schoss ein Fädchen schwarzen Blutes in die Spritze, als würde das Leben selbst aus ihrem Körper strömen und sich in todbringenden Wirbeln verteilen. Beim ersten Mal vor zwei Monaten wäre sie beinahe ohnmächtig geworden.
    »So, jetzt lass langsam locker«, sagte Moéma und begann mit der Injektion.
    Als die Spritze zur Hälfte geleert war, zog sie die Nadel heraus, drückte Thaïs den Wattebausch in die Ellenbeuge und bog den Arm darüber zusammen.
    »Oh Gott! Scheiße, oh Scheiße, oh Scheiße!«, stöhnte ihre Freundin und ließ sich schwer auf den Rücken fallen.
    »Thaïs, alles in Ordnung? Sag was! Thaïs?!«
    »Alles okay … Keine Sorge … Komm schnell zu mir«, lallte die junge Frau mühsam.
    Beruhigt wand Moéma sich selbst den Gürtel um den linken Oberarm und hielt ihn mit den Zähnen fest. Ihre Hand zitterte jetzt unbeherrschbar. Sie ballte mit aller Kraft die Faust, stach sich mehrmals, ohne in der unter ihrer Haut kaum sichtbaren bläulichen Fläche eine Ader zu treffen. Am Ende stach sie sich ins Handgelenk und verursachte einen dicken Bluterguss.
    Schon bevor der Rest injiziert war, bekam sie einen starken Geschmack von Äther und Parfüm in den Mund; und während die Blende zur Welt sich allmählich schloss, fühlte sie sich von den Lebenden getrennt, ins Dunkel des eigenen Daseins zurückgeworfen. Ein metallischer Lärm füllte ihr jäh den Kopf, eine Art nachhallendes, gedämpftes Klingen, vergleichbar mit dem Geräusch, das es beim Tauchen gibt, wenn die Sauerstoffflasche an die rostige Wand eines untergegangenen Schiffs stößt. Und mit dem Scheppern des Wracks kam die Angst. Die grässliche Angst, sterben zu müssen, nicht wieder zurückzufinden. Doch am Grunde dieser Panik wiederum herrschte eine absolute Gelassenheit gegenüber dem Sterben, eine Art fast luzides, verzweifeltes Spiel mit der Gefahr.
    Erfüllt von dem Gefühl, den Geheimnissen des Daseins so nahe zu kommen wie noch nie, erlebte sie mit, wie nach und nach alles verschwand, das nicht Körper war, ihr Körper und sein eigener Wille, mit einem anderen nach Lust strebenden Körper zu verschmelzen, mit allen Körpern des Universums.
    Auf ihrer Brust spürte Moéma Thaïs’ Hand, die sie nach hinten zog. Sie ließ sich sinken, auf einmal voll und ganz auf die mitreißende Lust an dieser Berührung konzentriert.
    Thaïs biss sie in die Lippe, streichelte sie zwischen den Beinen und rieb sich selbst an ihrem Schenkel. Das Leben explodierte in all seiner wiedergefundenen Schönheit; es duftete wunderbar nach Givenchy.

Favela de Pirambú
    Der Aleijadinho.
    In einem boshaften Wortspiel mit
aleijado
(behindert) und
alijado
(vermindert) wurde er allseits »Nelson der Verminderte« genannt, meist sogar kurz »der Verminderte«. Nelson war ein Junge von fünfzehn Jahren, vielleicht etwas älter, dem das Talent zu eigen schien, an allen Orten zugleich zu sein. Wo auch immer man hinging in den Straßen von Fortaleza, irgendwann sah man ihn zwischen den Autos, mitten auf der Fahrbahn, wo er ein paar Cruzeiros erbettelte. Bis zur Leibesmitte war er vollständig und sogar ein ziemlich hübscher Junge mit seinen halblangen Haaren, den großen schwarzen Augen und dem Anflug eines Schnurrbarts, »vermindert« war er aber vom Nabel abwärts. Er war sozusagen auf Knien zur Welt gekommen, mit zusammengewachsenen Beinen, und von den Füßen waren nur unförmige Klumpen vorhanden. So musste er wie ein Tier vorankriechen, vor allem mit Hilfe der Arme. Gekleidet mit immer denselben Lumpen – statt Shorts eher der Lendenschurz eines Gekreuzigten, dazu ein Streifenshirt, das er nach Gewohnheit der Bewohner des Nordeste bis über die Brust nach oben gerollt trug –, wuselte er ziemlich geschickt durch den Straßenstaub. Sein Handicap zwang ihn zu verrenkten Akrobatenkunststückchen, dank deren er von fern aussah wie ein Krebstier, eine Kokospalmenkrabbe zum Beispiel.
    Da die Hitze der Stadt die Autofahrer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher