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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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das
cangalho
. Sie aber hatten das Joch der Unterdrückten abgeschüttelt, sie lebten vogelfrei im Sertão, und wenn ihnen die Winchester auf den Schultern lastete, so doch wenigstens um der guten Sache, um der Gerechtigkeit willen. Wie alle Kinder des Nordeste war Nelson begeistert von der Figur des Lampião und sammelte eifrig alles, was mit diesem Robin Hood der von den Großgrundbesitzern Unterdrückten zu tun hatte. In seinem Unterschlupf in der Favela von Pirambú pflasterten allerlei aus der
Manchete
oder der
Veja
ausgeschnittene Fotos die Wellblech- und Furnierwände: Lampião von vorn, von hinten und von der Seite, in jedem Lebensalter, aber auch Maria Bonita, die Gefährtin seiner Abenteuer, und die wichtigsten Anführer seiner Bande: Chico Pereira, Antônio Porcino, José Saturnino, Jararaca … alles Figuren, deren Heldentaten Nelson ebenfalls auswendig kannte, heilige Märtyrer für ihn, deren Schutz er häufig erflehte.
    Da Zé ihm für heute Abend einen Besuch angekündigt hatte, war Nelson früher als sonst in die Favela zurückgekehrt. Er hatte im Terra e Mar einen Liter Cachaça gekauft und die beiden Lampen, die er sich aus leeren Konservendosen gebastelt hatte, frisch mit Petroleum befüllt. Unter allerlei Verrenkungen hatte er, so gut es ging, den Sand am Boden seines Zimmers glattgestrichen und zuvor die Zigarettenkippen herausgesammelt. Jetzt saß er da, wartete auf Onkel Zé und betrachtete derweil seinen im Halbdunkel schimmernden Vater. Ah, niemand konnte behaupten, er würde ihn vernachlässigen: Der Stab aus Stahl war poliert wie ein silberner Kerzenleuchter, Tag um Tag putzte und wienerte und ölte Nelson ihn, so dass sich die Flamme des Ewigen Lichts, das stets brennend auf ihm stand, in ihm spiegelte.
    Wie viele Männer aus dem Nordeste hatte Nelsons Vater in den Stahlwerken von Minas Gerais gearbeitet. Allabendlich berichtete er ihm von der Hölle der Hochöfen, von der Gefahr, in der die Arbeiter schwebten wegen des Geizes des ausbeuterischen Besitzers der Stahlhütte, Colonel José Moreira da Rocha. Und dann eines Tages war er nicht nach Hause gekommen. Stattdessen erschienen, aber erst nachts, ein großer Tölpel im Anzug und zwei Vorarbeiter in der baufälligen Hütte, die der Besitzer großmütig seinen Arbeitern stellte. Sie sprachen von einem Unfall, beschrieben detailliert, wie sein Vater, sein eigener Vater, in einen Schmelzkübel voll weißglühendem Stahl gestürzt war. Und dass jetzt nichts mehr von ihm übrig war außer diesem Stück Gleis, das sie ihm freundlicherweise brachten. Ein paar Atome seines Vaters, so hatten sie gesagt, befänden sich ganz sicher darin; es wog fünfundsechzig Kilo, wie auch der Verstorbene: So konnte er ihm ein christliches Begräbnis zuteilwerden lassen. Da er übrigens kein Wohnrecht mehr habe, so erkärte man ihm der guten Ordnung halber, müsse er die Hütte unverzüglich räumen.
    Da war Nelson zehn Jahre alt. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, weitere Verwandte gab es nicht, und so hatte er von heut auf morgen auf der Straße gestanden. Und während aller Irrungen und Wirrungen hatte er das Stück Gleis als sein kostbarstes Eigentum bewahrt und gepflegt.
    Dieser Colonel war ein Dreckstück, ein von der Syphilis zerfressener Hurensohn.
    »Keine Sorge, Papachen«, murmelte Nelson dem Stahlstab zu, »den schnapp ich mir, verlass dich drauf; früher oder später kriegt dieser Hund die Rache des
Cangaço
zu spüren.«

2 . Kapitel
    Welches handelt von jenem schrecklichen Kriege, welcher dreißig Jahre lang in den Landen Europas wütete & wo Athanasius großen Mut an den Tag legt angesichts einer Prüfung, die furchtbar hätte enden können.
    A thanasius hatte kaum sein Physikstudium begonnen, da erreichte der Krieg Paderborn. Am 6 . Januar 1622 gab Johann Copper seinen Schutzbefohlenen den Befehl zur Flucht, doch es war beinahe zu spät: Der Pöbel umringte bereits die Gebäude. Der Provinzialsuperior folgte nichts als seinem Mut & seinem Glauben in Gott den Herrn, trat allein vor die Söldner & mahnte sie zur Milde. Man schleuderte ihm eine brennende Fackel ins Gesicht, der er ausweichen konnte, doch die lutherischen Teufel sprangen den frommen Mann an, prügelten ihn gründlich, schmähten & verspotteten ihn, bevor sie ihn banden wie ein Tier & in den Kerker schleppten. Es war bei diesem Abenteuer noch sein Glück, dass er nicht gleich auf dem Schafott endete wie so viele andere gute Katholiken jener Tage, die ebenso
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