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Wo niemand dich sieht

Titel: Wo niemand dich sieht
Autoren: Catherine Coulter
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Strandhotel in Edgerton gegeben hatte, das aber während eines Wintersturms im Jahre 1974 einfach fortgespült worden war. Ich versuchte mir das vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Ich musste an diesen Film über eine riesige Tsunami denken, eine Flutwelle, die ganz Manhattan platt gemacht hatte, und grinste. Damals hatte ich mich gefragt, ob die Indianer in so einem Fall vielleicht Interesse hätten, die Halbinsel zurückzukaufen. Ich streckte den Kopf aus dem Fenster und sog den Geruch des Meeres tief in mich ein, ein herber, klarer und salziger Geruch. Ich liebte diesen Geruch, dieses wundervolle Gefühl, das mich immer überkam, wenn ich mich dem Meer näherte. Herrlich. Der tiefe Atemzug tat nur ein bisschen weh. Vor einer Woche hätte ich mir so etwas noch nicht erlauben können.
    Ich bremste ab, um ein tiefes Schlagloch zu umkurven. Meinen Schwager, Paul Bartlett, Jillys Mann, kannte ich eigentlich nicht sehr gut, obwohl er und Jilly schon seit acht Jahren verheiratet waren. Sie hatten geheiratet, nachdem sie ihr Pharmaziestudium abgeschlossen hatte. Paul hatte seines ein Jahr davor mit einem Doktorgrad absolviert. Er war in Edgerton aufgewachsen, dann aber an die Ostküste und nach Harvard gegangen. Mir kam er ein bisschen steif vor, ein bisschen wie ein kalter Fisch. Aber wer wusste schon wirklich, wie ein Mensch war? Ich dachte daran, wie Jilly von ihm geschwärmt hatte, wie toll es im Bett mit ihm wäre. Nicht gerade typisch für einen kalten Fisch.
    Ich war sehr überrascht gewesen, als mich Jilly vor sechs Monaten anrief und mir mitteilte, sie und Paul würden zurück nach Edgerton ziehen, Philadelphia und Vio-Tech, die pharmazeutische Firma, bei der sie die letzten sechs Jahre angestellt gewesen waren, verlassen. »Paul gefällt es dort nicht mehr«, hatte sie erklärt. »Sie lassen ihn nicht mit seiner Forschungsarbeit weitermachen. Sie ist sein Baby, Mac, sein Ein und Alles.« Und was ist mit dir?, hatte ich gefragt. Kurzes Schweigen, dann: »Meine biologische Uhr läuft langsam ab, Mac. Wir wünschen uns ein Kind. Ich werde für eine Weile aussetzen und versuchen, schwanger zu werden. Wir haben alles gründlich besprochen und sind uns ganz sicher. Wir ziehen wieder nach The Edge.« Ich musste lächeln, als ich an diesen Namen dachte. Schon vor langer Zeit, noch bevor sie Paul geheiratet hatte, hatte sie mir einmal erklärt, dass Edgerton Ende des achtzehnten Jahrhunderts von einem englischen Marineleutnant namens Davies Edgerton entdeckt worden war. Die Bewohner des Städtchens hatten den Namen im Laufe der Zeit so heruntergeschlampt, dass fast jeder nur noch The Edge sagte, was Sinn machte, lebte man ja sozusagen an der Kante oder Klippe.
    Ich war fast da. Die vier Meilen lange Strecke bis zur
    Küste war äußerst kurvenreich und bergig, was wohl auch der Grund dafür war, dass die Straßenbauingenieure sich damals entschieden hatten, die Küstenautobahn ins Landesinnere zu verlegen. Es gab tiefe Täler und steile Berge, eine breite Schlucht, die von einer kühnen Brücke überspannt wurde, dazu zahlreiche verkrüppelte und windgebeugte Eichen und Föhren und mindestens ein Dutzend Schlaglöcher, die aussahen, als stammten sie noch aus der Depressionszeit. Es war alles noch ziemlich kahl, da der Frühling gerade erst angefangen hatte. Auf dem Ortsschild stand EDGERTON - 15 METER Ü.M. -602 EINWOHNER. Meine Lieblingseinwohnerin lag derzeit im Tallshon Bezirkskrankenhaus, gut zehn Meilen nördlich von Edgerton, im Koma.
    Jilly, dachte ich und umkrallte das Lenkrad unwillkürlich fester, bist du absichtlich durch die beschissene Leitplanke gerast? Wenn ja, warum?

3
    Es gibt nur noch mich, alles andere ist verschwunden, und das ist unheimlich tröstlich. Als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich gar nicht tot war, war das ein Schock für mich. Wie war das möglich? Wie hatte ich das überleben können? Ich war doch mit dem Porsche über die Klippen gerast, war in hohem Bogen durch die Luft geflogen und dann scharf wie ein Messer ins stille, schwarze Meer getaucht.
    Was danach kam, weiß ich nicht mehr.
    Ich fühle meinen Körper nicht, und das ist wahrscheinlich gut so. Ich weiß, dass da Leute um mich herum sind, Leute, die flüstern, wie man flüstert, wenn man sich in der Nähe eines Todkranken befindet, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Komisch, aber sie sind irgendwie nicht richtig da, sind nur vage Schattengestalten. Auch ich bin, so wie diese Schattengestalten, zwar da, aber
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