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Wo bitte geht's nach Domodossola

Titel: Wo bitte geht's nach Domodossola
Autoren: Bill Bryson
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sahen viel glücklicher aus. Manchmal versammelten sich kleine Gruppen vor Dimitrows Grab und diskutierten die politische Lage, und es war unverkennbar, wie sehr sie den ungewohnten Luxus genossen, offen miteinander reden zu können. An einem Abend stellte jemand vor dem alten Königspalast eine Reihe von Fotos des im Exil lebenden Königs Simeon und seiner Familie aus, und die Leute strömten in Scharen herbei, um sich die Bilder anzusehen. Zuerst fand ich das merkwürdig, aber dann stellte ich mir vor, wie die Briten reagieren würden, wenn ihre Königsfamilie vor vierzig Jahren in die Verbannung geschickt worden wäre und man dem Volk alle Informationen über sie vorenthalten hätte. Auf einmal konnten die Bulgaren sehen, was aus ihren Prinzessinnen und Herzögen geworden war. Auch ich sah mir die Bilder an und hoffte, durch sie zu erfahren, daß König Simeon nun eine Filiale von Dairy Queen in Sweetwater, Texas, leiten würde. Doch es hatte den Anschein, als führe er ein Leben in Saus und Braus in Paris, so daß ich es ablehnte, eine Petition zu unterschreiben, auf der man seine Wiedereinsetzung forderte.
    Jeden Abend machte ich mich auf die Suche nach dem Club Babalu, einem Nachtclub, in dem Katz und ich uns die Nächte um die Ohren geschlagen hatten. Er hieß nicht wirklich so; wir haben ihn so genannt, weil er uns an den Club Babalu in Desi Arnaz’ I Love Lucy erinnert hat. Er sah aus wie ein Überbleibsel aus den frühen fünfziger Jahren, aber in Sofia war es der Nachtclub. Abend für Abend saßen Katz und ich auf einem Balkon mit Blick auf die Tanzfläche, tranken polnisches Bier und sahen einer Rock’n Roll Band zu (oder was die Bulgaren dafür hielten). Ihren beinahe totalen Mangel an Talent glich die Band mit einer unglaublichen Begeisterung für die Musik aus. Sie spielte Stücke, die man im Rest der Welt seit zwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte – »Fernando’s Hideaway«, »Love Letters in the Sand«, »Green Door« –, und Leute in unserem Alter tanzten dazu, als wären es die neuesten Hits. Und womöglich waren sie das in Bulgarien auch. Aber das Beste war, daß Katz und ich dort wie Berühmtheiten gefeiert wurden, denn amerikanische Touristen waren in Sofia eine Seltenheit. (Das sind sie übrigens noch heute.) Leute setzten sich zu uns an den Tisch und spendierten uns Drinks. Mädchen fragten, ob wir mit ihnen tanzen wollten. Wir waren jeden Abend so betrunken, daß wir uns ein Dutzend Möglichkeiten entgehen ließen, auch in sexueller Hinsicht auf unsere Kosten zu kommen. Aber es war trotzdem herrlich.
    Ich hätte das Babalu so gern wiedergesehen, daß ich die ganze Stadt danach absuchte. Sogar den langweiligen, weiten Weg zum Bahnhof bin ich gelaufen, denn ich hatte gehofft, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, wenn ich die Strecke zurückverfolgen würde, auf der Katz und ich in die Stadt gekommen waren. Ohne Erfolg. Und dann, an einem Freitagabend, als ich wohl zum zwanzigsten Mal in dieser Woche am Restaurant des Grand Hotel vorbeiging, drang für einen Moment der Klang blecherner Gitarren und dröhnender Verstärker an mein Ohr. Ruckartig drehte ich mich um und prallte fast gegen die Scheibe. Es war das Babalu! Die ganze Zeit war ich daran vorbeigelaufen, aber ohne die fürchterliche Musik hätte ich es nie bemerkt. Nun erkannte ich jeden Zentimeter. Da war der Balkon. Da war unser Tisch. Selbst die Kellnerinnen kamen mir bekannt vor, wenn sie auch ein wenig gealtert waren. Glückliche Erinnerungen wurden wach.
    Ich wollte gleich hineingehen und ein polnisches Bier bestellen, doch in der Tür trat mir ein Kerl in einem zu großen, schwarzen Anzug in den Weg. Er wurde nicht gerade unverschämt, er weigerte sich einfach, mich durchzulassen. Seine Gründe verstand ich nicht. In Bulgarien hat man sich bald daran gewöhnt, die Gründe für alles Mögliche nicht zu verstehen, daher setzte ich meinen nächtlichen Rundgang um die stockfinstere Newski Kathedrale fort. Zwanzig Minuten später schlenderte ich wieder am Grand Hotel vorbei und verstand, warum man mir den Eintritt verwehrt hatte. Sie waren im Begriff zu schließen. Es war halb zehn an einem Freitagabend, und dies war der belebteste Teil der Stadt. Bulgarien liegt im Sterben, dachte ich und kehrte ins Hotel zurück.

    Ich konnte froh sein, daß ich mich, wann immer ich wollte, ins feudale Sheraton zurückziehen konnte. Dort gab es kühles Bier, anständig zu essen, und auf meinem Zimmer stand ein Fernseher, mit
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